Kolumne Idole: Das Nagen am Druckerkabel
Hilfe, ich arbeite unter linken Spießern! Da kann mir nur einer helfen: Dirk "Freibeuter" von Slime.
Früher, als ich noch in der ausrangierten Wildlederjacke meines Großonkels Albert hauste und auf Parkbänken in der Lüneburger Heide herumsaß, um das Leben scheiße zu finden und Walkman zu hören, waren es Slime. Die lieferten die richtige Energie, damit ich in meinem verschlafenen Nest nicht umkam vor Langeweile. Schwer, das Leben als Kind von 68er-Eltern. Keine Möglichkeit zur Rebellion. Heroin hätte sie wohl geschockt (Kiffen war natürlich okay), aber so hart war ich dann doch nicht drauf. Ich suhlte mich also in Selbstmitleid und Welthass und sang leise die Zeilen von "Linke Spießer" mit.
Kirsten Reinhardt arbeitet in der Online-Redaktion der taz.
"Ihr seid Lehrer und Beamte / seid Gelehrte so genannte / Ihr schreibt Bücher, seid im Fernsehen / Und ihr glaubt, dass wir euch gern sehen / Immer kritisch und politisch/ Marx und Lenin auf dem Nachttisch / … Und werden wir mal aggressiv / Seid ihr auf einmal konservativ /… Ihr seid nichts als linke Spießer" Lange habe ich nicht mehr an Slime gedacht. Die haben sich 1994 aufgelöst, und die goldene Punk-Zeit ist irgendwie auch vorbei. Aber in den letzten Monaten und Tagen, da flüsterte es erst leise und dann immer lauter in mir, bis es sich am Ende dieser Kolumne zu einem Aufschrei von 120 Dezibel (zum Vergleich: Explosion, Düsenflugzeug, Slime-Konzert) steigern wird.
Es begann angesichts der Büchertische voll mit Ratgebern, geschrieben von Männern, die zwecks Selbstkrönung ihre Elternzeiterfahrung verschriftlicht hatten: "Leset und sehet: Ich ein Mann! Und eine Windel! Was sage ich: 4.000 Windeln!"
Ein Bekannter erzählte mir, dass Autor XY sein Windelbuch über die Elternzeit nur hatte schreiben können, weil die Schwiegermutter sich zwischenzeitlich des Säuglings erbarmte.
Was das alles mit mir zu tun hat? Ich bin kein Mann und habe es bisher nicht an die große Glocke gehängt. Nur so viel: Elternzeit, länger als zwei "Vätermonate". Und ja, ich habe mich durchaus sehr gefreut, auf die Wiederaufnahme der Arbeit. Ich habe ja auch das Glück, für einen Arbeitgeber zu schreiben, der, so jüngst eine Kollegin, "cool ist und für den es eine Ehre ist zu arbeiten". Na dann: erster Tag. Freundliche Blicke. "Ach, schön, du wieder da!". Ein, zwei verstohlene Blicke auf den Bauch (sieht man noch was?!).
Aber dann: Hochgezogene Augenbrauen, ein vorsichtig lauernder Unterton und leichtes Erstaunen schwingen mit in den Fragen, die wie Anklagen klingen: "Und wo ist dein Kind?!" Perplex ignoriere ich die Sätze, die sich vor meinem inneren Auge wie zu einem Multiple-Choice-Antwortkasten zusammenfügen: a) sitzt unter meinem Schreibtisch und nagt am Druckerkabel. b) zu Hause im Gefrierschrank. c) bei einer ganz bösen Frau in der Kindertagesstätte mit 40 anderen Kleinkindern.
Tatsache ist: Ich lache baff bis debil und stammle "Öh, beim Vater." Darauf, ungläubig: "Vater? Das sitzt zu Hause und heult sich die Augen aus!" Tief Luft holen. (Vorher noch Dirk alias "Freibeuter" anrufen, den Sänger von Slime). Dessen richtige Antwort lautete d): "linke Spießer!"
PS: Ich habe mich umgehört. Meine männlichen Kollegen wurden nicht nach dem Verbleib ihrer Sprösslinge gefragt, als sie nach der Elternzeit an ihren Schreibtisch zurückkehrten.
PPS: Es heult sich nicht die Augen aus. Der Vater schreibt ja auch kein Windelbuch.
PPPS: Hier der Link zu "Linke Spießer" auf Youtube. Schöner war alt gewordener Punkrock nie!
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