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Kolumne HerbstzeitlosDie totale Verfinsterung

Auf dem Weg in den Urlaub sendet mein Auto allerlei hysterische Botschaften. Total Eclipse – nicht nur am Himmel.

In Oregon beobachten zwei Menschen die Sonnenfinsternis. So romantisch wurde es bei uns nicht Foto: dpa

Once upon a time I was falling in love – now I’m only falling apart“. Kennen Sie? Aus der Karaokebar? Oder aus dem Dudelfunk? Bonnie Tyler, UK-Rockröhre mit Reibeisenstimme, „Total Eclipse of the Heart“, irgendwie gut durchgeknallter Welthit aus dem Jahr 1983. Der Inhalt: Nicht weiter begründeter Verlustschmerz, auch der zugehörige, eher somnambule Videoclip gibt wenig Aufschluss.

Ein Hit also, der zu jedem Anlass passt. Und wie die Faust aufs Auge zur Sonnenfinsternis am vergangenen Montag. Zur Total Solar Eclipse also. Musikredakteure drehten also global durch, die Dame Tyler (66) kam in die Heavy Rotation. Spotify vermeldete Rekordzugriffe, in den USA, dem Hauptland der Finsternis, erklomm das Lied erneut die Charts. Die Sängerin selbst hatte einen gut bezahlten Liveauftritt auf einem Royal-Carribean-Kreuzfahrtschiff, „I know there’s nothing better, there’s nothing I just wouldn’t do“.

Ausgerechnet am Montag nun waren der Lebensgefährte und ich unterwegs mit dem Auto in Richtung Süden, in Richtung Golf von Trieste, der Sonne entgegen. Doch ob in Brandenburg, Sachsen-Anhalt oder Thüringen, die Dame Tyler besang die totale Verfinsterung. Die Dudelfunksprecher sekundierten mit allerlei Infos. In Oberfranken schließlich berichtete mein Lebensgefährte, dass sogar sein Heilpraktiker ihm gesagt habe, dass dieser Tag große Ereignisse mit sich bringen werde.

Prompt reagiert das sensible Gefährt in Höhe Hof: Lampen leuchteten, das Display kommunizierte allerlei hysterische Botschaften. Röcheln, ruckeln, aus. Total ­Eclipse. Anrufen, Abschleppen, Abwarten. Auf das Ende der Welt warteten wir nun in einem „Bistro“, das sich im Foyer eines Baumarkts befand. Es gab Schnitzel mit Pommes, beides aus der Fritteuse. An der Salatbar rohes Rotkraut und blassgrüne Dosenoliven in dunklem Gewässer. Der Geruch von Chlor.

Nach 200 Kilometern: Röcheln, Ruckeln, Aus.

Müde Menschen schleppten sich durch das Foyer, Sonderangebote begutachtend. Solargartenleuchten, Froschskulpturen. Dunkelbayern. Finsterfranken. Aus den Lautsprechern Bonnie Tyler, „Every now and then I fall apart“. Nach drei Stunden im Baumarkt der Gedanke: Wenn jetzt die Welt unterginge, es wäre nicht schade um sie.

Weiterfahrt nach Kraftstofffilterwechsel. Bayern 3, „Turn around, bright eyes“. Nach 200 Kilometern: Röcheln, Ruckeln, Aus. Total Eclipse. Werkstätten schon zu. Warten in einer Tankstelle am Chiemsee. Eine Stunde, zwei Stunden. Ein Gast am Nebentisch erzählt, dass er schon seit zwanzig Jahren keinen Sex mehr hat mit seiner Frau, oder waren es dreißig? In den sozialen Medien heißt es, der Präsident der Vereinigten Staaten habe ohne Sonnenbrille in die total verfinsterte Sonne geblickt. Drei Stunden. Bonnie Tyler singt „Every now and then I fall apart“. Vier Stunden. Fünf Stunden.

Ein Abschleppwagen ist aus Ljubljana gekommen. Der junge Fahrer lädt das Auto huckepack. Er wird uns über die Alpen fahren und die Versicherung zahlt. Hinter den Alpen wird die Sonne scheinen. Es wird warm sein, heiß sogar. Im Radio läuft alles andere, Turbofolk, aber nicht mehr Bonnie Tyler.

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Martin Reichert
Redakteur taz.am Wochenende
* 21. Februar 1973 in Wittlich; † 26. Mai 2023 in Berlin, war Redakteur der taz am Wochenende. Sein Schwerpunkt lag auf gesellschaftlichen und LGBTI-Themen. Er veröffentlichte mehrere Bücher im Fischer Taschenbuchverlag („Generation Umhängetasche“, „Landlust“ und „Vertragt Euch“). Zuletzt erschien von ihm "Die Kapsel. Aids in der Bundesrepublik" im Suhrkamp-Verlag (2018). Martin Reichert lebte mit seinem Lebensgefährten in Berlin-Neukölln - und so oft es ging in Slowenien
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