Kolumne Geräusche: "Beim ersten Mal habe ich geweint"
Mit Samantha Fox, Bonnie Bianco und Reinhard Mey ins neue Jahr.
F ür die dezente Drift der Vergänglichkeit sind wir vielleicht nie so empfänglich wie in der Zeit zwischen den Jahren. Diesmal wars besonders krass, verbrachte ich die kritischen Tage unter dem Dach eines Freundes im Bayerischen, der dort - neben echten Hühnern, Schafen und Katzen - auch eine echte Zeitmaschine beherbergte.
Diese Maschine war nun nicht direkt der klassische Ledersessel auf Kufen, mit umgittertem Propeller, blitzenden Kondensatoren und elektrischen Spulen - sondern bestand aus einem beinahe kompletten Archiv der Zeitschrift Pop, von 1970 bis an die Schwelle der neunziger Jahre. Abertausende Exemplare mit Hunderttausenden von Seiten drängten sich dort im Keller, auf dem Dachboden und überhaupt überall, wo Platz war für bunte Stapel aus der Welt des Pop. Da konnte man schon mal ins Blättern kommen. Und kam man ins Blättern, erwies sich die Zeitmaschine als wesentlich effizienter als das Modell von H. G. Wells.
Die ganz frühen Ausgaben zeigen einen Musikjournalismus, der noch in den Kinderschuhen und tief in blutigen Grabenkämpfen mit der Orthografie steckt: "Die Humblebums haben beschlossen, aufzuhören, zu existieren", steht da über die erste Band des kürzlich verstorbenen Gerry Rafferty. Zwischen Werbung für Trocken-Shampoos, deodorierende Intimsprays und Essays zur Frage "Macht die Pille hemmungslos?" heiß es über Iggy & The Stooges lapidar: "Sein brutaler Stil kam nicht an, und inzwischen macht Iggy etwas anderes."
ARNO FRANK (36) ist taz-Redakteur. Er kann lesen und schreiben. In seiner Freizeit spielt er gerne Flipper, hört schlechte Musik, schaut sich gute Pornos an und erschlägt manchmal kleine Hunde.
Im Gegensatz zu jenen "Newcomern", die sich "in den vergangenen Monaten ganz schön entwickelt" und "das Zeug dazu haben, in absehbarer Zeit zu absoluten Top-Sängern zu avancieren". Elton John etwa oder ein "uninteressantes Anhängsel" von Crosby, Stills & Nash, ein gewisser Neil Young nämlich, dem demnächst "zuteil werden könnte, was er sich erträumt: Erfolg und Anerkennung". Vorgestellt wird uns ein Reinhard Mey, der noch bei seiner Mutter wohnt ("Berlin-Frohnau, Benediktinerstraße 17") und Schlagerstars "bedenklich bis betrüblich" findet. Rührend auch Kritiken wie die von Van Morrisons ziemlich epochalen "Saint Dominics Preview", einer Platte, die "leider zu einfach gestrickt ist, um sich gegen die komplizierte Konkurrenz durchzusetzen".
In den 80er Jahren dann überschlagen sich die Ereignisse. Pop ist zu Pop Rocky degeneriert, den Titel zieren nun Leutchen wie Samantha Fox mit Zitaten wie: "Beim ersten Mal habe ich ein bißchen geweint." Erst im Heft wird aufgeklärt, dass ihr erstes Konzert gemeint ist. Ferner treten auf in der Blüte ihrer Jahre und auf der Höhe ihrer Hoffnungen: Sabrina, Sandra, Bonfire, Vaya Con Dios, Richard Marx, TPau, Johnny Hates Jazz, Bonnie Bianco, Robin Beck, Patrick Swayze, Hendrick Martz, Rick Astley, Bros und, horribile dictu, Tini Plate. Kurzum: Schund, wohin das Auge blickt. Außer über meinem Bett natürlich. Mein neues Terence-Hill-mit-gezücktem-Colt-Poster ist dort jedenfalls nicht mehr wegzudenken.
Text: "Touch me / Touch me / I wanna feel your body" (Samantha Fox)
Musik: Das servile Gesäusel der Spülmaschine
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