Kolumne Generation Camper: Pioniere der Langsamkeit
Die Raststätte „eine schillernde kleine Stadt“ für die Schriftsteller Julio Cortazar und Carol Dunlop. Für andere ein finsterer Ort.
U nter den verrückten Expeditionen dieser Welt war die VW-Bus-Reise der beiden Schriftsteller Julio Cortazar und Carol Dunlop (1982) garantiert die verrückteste: 33 Tage lang auf der Autobahn Paris–Marseille von Rastplatz zu Rastplatz. Aber das literarische Ergebnis war großartig: „Die Autonauten auf der Kosmobahn“, so der Titel, sind bis heute ein wunderbar ironisch-poetischer Reisebericht und eine Ethnografie aus no-man’s-land, von Orten also, die man bestenfalls zum Pinkeln, Essenfassen, Auftanken aufsucht.
Nicht so Cortazar und Dunlop: Perfekt haben sie ihre Forschungsreise vorbereitet und penibel führen sie ihr Bordtagebuch. An ihren Reiseschreibmaschinen arbeiten sie so konzentriert wie auf echter Fahrt am Ende der Welt. Und bald fiebert man mit, wenn endlich mal eine Autobahnraststätte auf dem Plan steht und wie ein Vorposten der Zivilisation Begehrlichkeiten weckt und Hochgenüsse verspricht. Etwa eine ausgiebige Dusche, bombastisches Essen und, der Gipfel des Luxus, ein richtiges Bett in einem Motel. Im nützlichen Sortiment der Tankstellenmärkte stocken sie ihre Vorräte auf.
Aber spannend ist vor allem ihre andere Sicht auf diese Ruhepole: in den Raststätten trifft sich nämlich tout le monde und holt Luft von der verrückten Raserei auf der Autobahn. Es sind Orte internationaler Begegnungen, eigentlich viel zu schade für den kurzen Klogang oder den Sekundenschlaf. Und wenn erst die Dunkelheit einsetzt, dann, so die Autonauten, lasse sich Nacht für Nacht der Entstehung einer „schillernden kleinen Stadt“ beiwohnen, „die nur einmal existieren wird, um am nächsten Tag durch eine ähnliche, aber doch andere abgelöst zu werden“.
Meine Camperfreunde winken ab. Sie finden jeden finsteren Ort abseits der Autobahn sicherer. Sie argumentieren mit kriminellen Banden, Angriffen, Einbruch, Prostitution. Gern beherzige ich ihre Ratschläge. Aber immer trödele ich auf Raststätten herum. Die Abfahrt fällt mir schwer. Das ist die Schuld der Literatur.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!