Kolumne Generation Camper: Stühle für die ganze Welt
Der Thonet-Stuhl, ein Kaffeehaus-Klassiker, war früher ein Massenexportprodukt. Heute erobert der Plastikstuhl die Welt. Was für ein Fortschritt!
Was reizt uns an Thonet“, fragt mein Freund J., „Industriekultur oder schöne Nostalgie?“ Er scrollt zu den Fotos vom letzten Urlaub: Kuba. Die farbenfrohen Oldtimer übergeht er, dann zeigt er mir Aufnahmen aus einem Café – und darauf sind sie zu sehen, die vielen Wiener Kaffeehausstühle.
Lauter schön geschwungene Bugholzstühle. Lauter Klassiker, lauter Thonet-Stühle. Sie sind ein vertrauter Anblick. Vertraut auch diese Kaffeehausatmosphäre – und doch so weit wChristel Burghoffeg, als wäre es eine andere Ära.
Beim Besuch des Museums der Herstellerfirma Thonet sind wir von Bugholzraritäten umgeben. Ein engagiertes Familienmitglied hat die Stars der frühen Thonet-Stühle in aller Welt aufgespürt und hier zusammengetragen. Thonet hat seinen Sitz im nordhessischen Frankenberg, nahe dem Ausflugsziel Edersee und dem Nationalpark Kellerwald.
Dieser ist ein Buchennationalpark und macht schon im Namen deutlich, was in dieser Region einmal die wirtschaftliche Grundlage war, nämlich Buchenholz, dem Holz für die Stühle. Im Rahmen von Industrietourismus gehört inzwischen auch Thonet zu den beliebten Ausflugszielen. Nicht nur der Holzstühle wegen.
Ende der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts landete Thonet den nächsten großen Designtreffer mit den Freischwingern der Bauhaus-Designer. Deren hohe Ansprüche an Gebrauchsgegenstände, an die Ästhetik ihrer Stahlrohrmöbel, an Form und Funktion sind legendär. Heute würde man „nachhaltig“ sagen. In den Showrooms des Werks stehen die Design-Generationen: aktuelle Kollektionen, Bauhausklassiker, Bugholzstühle. Tatsächlich werden in Frankenberg neben den modernen Möbeln auch weiterhin die perfekten Stühle von einst hergestellt. Thonet lässt die Legenden weiterleben.
Unsere Favoriten aus der Kaffeehaus-Ära sind wunderschön – und teuer. Dabei waren sie früher mal ein Massenprodukt, schlichte Gebrauchsstühle für die ganze Welt – sie wurden überallhin exportiert. Heute sind sie Luxus. Nennt sich dies nun industrieller Fortschritt?
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