Kolumne Generation Camper: Als Frau allein im Wald
Wie ein Relikt aus Rotkäppchens Urangst-Universum, wo Realitäten und alte Traumata böse durcheinandergehen.
W ieso ist R. so erschüttert? Weil sie diese Angst hatte? Schließlich war nichts „Schlimmes“ passiert – wie man so schön sagt. Kein Kampf, keine Waffe, keine Vergewaltigung. R. konnte weglaufen. Trotzdem sitzt sie fix und fertig mit mir am prasselnden Kaminfeuer unserer schönen galizischen Unterkunft. Und trinkt weiter Wein, um den Kloß aus dem Hals zu kriegen. „Den Boden unter den Füßen hat mir das weggerissen“, sagt sie.
Der Angreifer hatte seinen Wagen im Wald geparkt und einfach nur gewartet. R. war den Bedürfnissen dieses Mannes direkt in die Arme gelaufen. Plötzlich war sie da, diese furchtbare Angst. Dass dieser Mann jetzt „Ernst machen“ könnte. Auf welche Weise auch immer. Er hatte sie an den Schultern gepackt und zum Koitus aufgefordert.
„Und du?“, fragt mich R. „Hast du denn keine Angst, so ganz allein im Wald?“ Beinahe hätte ich gesagt: „Und ob!“ Aber diese Angst ist wie ein Monster, das ich nicht herbeirufen möchte. Wie ein Relikt aus Rotkäppchens Urangst-Universum, wo Realitäten und alte Traumata böse durcheinandergehen, wo wir als Mädchen Schutzbedürftigkeit lernen mussten und uns als Frauen immer noch drangsalieren lassen.
Und wo im versteckten Inneren sogar noch Strafen lauern, wenn wir eines Tages eigene Wege gehen. Kaum eine Frau, die keine Angst im Rucksack mitschleppt – auch wenn sie sich vorher fit gemacht hat, körperlich und mental, und sich gut informiert hat, ob die befürchteten Gefahren überhaupt realistisch sind. Die meisten Frauen suchen sich Gesellschaft oder bleiben gleich zu Hause.
Aber wir kennen auch das Vergnügen, allein unterwegs zu sein. R. ist keine Hasenfüßin. Sie ist Mitte 50, Ärztin und Mutter erwachsener Kinder, sie ist verheiratet und hat ein Faible für Wanderungen auf spanischen Jakobswegen. Noch über 40 Kilometer ist sie durch den Regen gehastet an diesem besagten Tag, anfangs aus Angst vor Verfolgung und dann, um den Schock abzulaufen. Schließlich antworte ich R.: „Mir ist das auch schon passiert.“ Nur Männer haben das Privileg, sich ohne Angst in der Öffentlichkeit zu bewegen.
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