Kolumne Fremd und befremdlich: Traditionen müssen sich ändern
Das neue Jahr beginnt mit dem Dreck des Silvester-Mülls. Ich verstehe die Freude am Böllern. Aber wir könnten auch anders feiern.
Das neue Jahr beginnt, wie jedes neue Jahr, vor allem dreckig. Die Stadt ist so dreckig wie nie. Die Stadt ist eine große Müllkippe. Das gilt für Hamburg ebenso wie für Bremen und Kiel und für sicherlich jede norddeutsche Kleinstadt, in der das Silvesterfeuerwerk noch nicht verboten worden ist.
Jedes Jahr, wenn ich am ersten Januar durch die Straßen spaziere, frage ich mich, was das für ein Zeichen ist, was für ein Symbol für das neue Jahr, dass es so dreckig anfängt, so müde und erschöpft, mit so vielen Verletzten, mit Bränden und Zerstörungen und in Hamburg immerhin 126 Anzeigen und 2.500 Polizeieinsätzen.
Aber es muss ja nicht alles ein Zeichen sein. Manche Sachen bedeuten einfach nichts. Die Leute feiern. Es ist vielleicht auch eine Leere in diesen Dingen, eine Bedeutungslosigkeit. Der Schmutz bedeutet ebensowenig wie der Glanz. Es gehört alles zu den Dingen, die wir Traditionen nennen. Traditionen: je länger wir sie uns unverändert erhalten, um so sinnentleerter werden sie oft.
Ich merke das an mir selber. Dinge, die mir einmal wirklich Freude bereitet, die mir Spaß gemacht haben, die machen mir heute keinen Spaß mehr. Dafür machen mich andere Sachen glücklich, und darum müssen sich meine privaten Traditionen ändern. Das ist die einzige logische Konsequenz. Alles ändert sich. Alles muss sich ändern! Das ist das einzige Zeichen, die einzige Bedeutung des Jahreswechsels, dass sich alles ändern muss, auch unsere Traditionen müssen sich ändern.
Wenn ich zum Beispiel plötzlich einen Hund habe, dann zünde ich keine Böller mehr. Wenn ich plötzlich kleine Kinder habe, betrinke ich mich nicht mehr, ich ziehe nicht um die Häuser, ich verbringe die Nacht zu Hause. Wenn ich jetzt in einem Reetdachhaus wohne, schieße ich keine Raketen mehr ab. Und wenn ich aus einem Krieg fliehen musste, dann kann ich manchmal keinen Spaß mehr haben am Zischen und am Knallen.
Wenn aber die Nachbarn den Hund haben, das kleine Kind, das Reetdachhaus und das Trauma? Silvester, das bei 90 Prozent aller Kommentarkläuse immer noch Sylvester heißt wie der Zeichentrickkater oder der Stallone, ist das Fest, bei dem es einfach unmöglich scheint, die verschiedenen Rücksichten aufeinander zu vereinen. Es scheint einfach nicht mehr möglich zu sein, Rücksicht zu nehmen. Rücksicht ist nicht die Devise des neuen Jahres. Es ist Jubel, es ist DIE TRADITION. Die unveränderte Tradition.
Ich verstehe schon die Freude, die ich in Teilen ebenso empfinde. Ich zünde auch gerne etwas an und schieße etwas ab. Einen Knallbonbon, eine Rakete. Ich sehe auch gerne den Zauber über der Stadt, die bunten Blumen in der Nacht, den Glitzerregen, gebe mich kindlichen Illusionen von Schönheit hin. Und ich verstehe sogar die Verschwendung. Wann jemals verschwenden die Deutschen so wie an Silvester? Sie geizen doch eher, beim Leben und vor allem beim Essen. Ist die Verschwendung nicht Ausdruck der Lebensfreude? Ist sie also etwas Gutes?
Es steckt allerdings auch Aggressivität in all dem, es gibt Angriffe und Rücksichtslosigkeiten, es gibt Verletzungen und Schmerzen. Es gibt vor allem viel Leiden. Wie kann man sich dann aber freuen, wenn andere leiden? Müssen wir in erster Linie die Menschen und auch die Tiere nicht beschützen?
Es gibt ein paar ganz hübsche jüngere Traditionen im Norden. In Ellerhoop, im Kreis Pinneberg in Schleswig-Holstein, lässt der Drachenclub „Flattermann“ seine Drachen das neue Jahr begrüßen.
In Büsum im Kreis Dithmarschen haben sich 479 teils kostümierte Menschen in die eiskalte Nordsee geworfen zum Neujahrs-Anbaden. Aber auch in Niedersachsen, in diversen Orten an der Nordsee, auf Norderney, oder an der Innerstetalsperre im Harz gab es ein Neujahrs-Anbaden.
In Misburg in Hannover zum Beispiel sprangen sie nackt ins Wasser des Sonnensees.
Das ist natürlich alles nichts für Mitternacht. Aber es ist möglich, sich ein anderes Feiern vorzustellen. Es ist möglich, sich neue Bräuche anzuschaffen. Wie wir jetzt Silvester feiern, glaube ich, ist nicht mehr richtig.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland