piwik no script img

Kolumne EurokolumneDas Turnier zweiter Ordnung

Kommentar von Tobi Müller

Noch sechs Wochen bis zur Fußball-EM. Die Eurokolumne (V), diesmal aus der Schweiz, wo schon einmal eine Massen-Panik geprobt wird. Das Grobe übernimmt später die Polizei aus Deutschland.

M anche kulturelle Hinweise für den Juni locken mit dem verkaufsfördernden Zusatz: kein EM-Spiel! Während eines Turniers ist das eine geschlechtsunabhängige Anrufung, denn tatsächlich ist in den Bars das Verhältnis jeweils ausgeglichen. Üblicherweise weiß der heterosexuelle Single-Mann, dass er nie mit so wenig Konkurrenz zu rechnen hat wie an einem Abend, an dem die Champions League spielt. Doch bei der EM werden auch solche Klischees außer Kraft gesetzt. Frau schaut mit.

Und wenn ich Frau sage, sind manche Männer mitgemeint. Zum Beispiel ich, ganz Gender jetzt. Ich bin ein Turniergucker. Die Euro ist ein bisschen Karneval und Umkehrung der Verhältnisse. Laien werden Kenner, Männer Frauen, und Frauen mit Perlenkettchen fluchen und schreien. Aber Hooligans werden zahm. Dafür sorgen 850 Bereitschaftspolizisten - aus Baden-Württemberg und Hessen.

Die Schweizer Polizei darf Distanzwaffen einsetzen, zum Beispiel Gummischrot. Doch die deutschen Mietpolizisten sind derweil für das Grobe zuständig, für den Nahkampf mit Schlagstock. Der Trick ist alt, der Vergleich unzulässig, aber strukturell verwandt: Als die damals noch arme Schweiz im November 1918 vom Generalstreik lahm gelegt wurde und das Militär die Städte besetzte, waren es ländliche Bauernsoldaten, die auf die Arbeiter in Grenchen schossen (und deren drei töteten). Mittlerweile ist die Schweiz geografisch zusammengerückt. Den Aufräumer aus der Fremde kann man sich nicht mehr aus dem kleinen Nachbarkanton holen. Man muss ihn heute im großen nördlichen rekrutieren. In Deutschland.

Die SPD Baden-Württembergs hat bereits Bedenken angemeldet, dass die abgezogenen Polizisten in ihrem Land fehlen könnten. Wer im reichen Süden je eine Revolution anzetteln will, sollte dies unbedingt in diesem Juni tun. Werden Stuttgarts Autofabriken brennen? Fliegen Freiburgs Bio-Weinkeller in die Luft?

Der karnevalistische Aspekt des Turniers hat sich schon konkret offenbart. In Zürich, wo gerade mal zwei Spiele ausgetragen werden, fanden im Stadion Letzigrund 800 Laiendarsteller zu einer Inszenierung einer Massenpanik zusammen. 400 Polizisten und Sanitäter, 400 Zuschauer und Randalierer. Denn am 17. Juni spielt Italien gegen Frankreich. So was will geprobt sein.

Vielleicht handelte es sich dabei auch nur um eine Form der simulierten Teilhabe. Denn selbst in meinem fußballverrückten Freundeskreis hat niemand eine Karte für ein Eurospiel. Eine kleine Umfrage hat ergeben, dass man nicht ein- mal jemanden kennt, der eine Karte hat. Die Euro bleibt ein Stück weit Phantom. Oder ein Turnier zweiter Ordnung: Es geht um die Beobachtung der Beobachtung.

Nicht dass das keinen Spaß machen würde. Vielleicht sogar mehr, als in Stadien unter vielen Menschen zu sitzen, die zwar - von Firmen und Institutionen - Karten gekriegt haben, aber nichts von Fußball verstehen. Wir haben es hier mit zwei Turnieren zu tun. Das eine handelt von Exklusivität und Polizei und Uefa-Bier. Das andere von Fußball und Beobachtung. Letzteres findet außerhalb der Stadien statt.

An all dem offiziellen Euro-Gedöhns nimmt die Kulturszene so gut wie gar nicht teil. Das geschieht weniger unter Protest oder Boykottandrohungen, sondern ganz selbstverständlich. Man eignet sich an, was einem nicht gehört. Es gibt literarische Turniere mit Fußballtexten. Oder eine schöne, meist in Schweizerdeutsch gehaltene CD der Schwalbenkönige, auf der Schriftsteller und Kolumnisten wie Pedro Lenz und Wolfgang Bortlik der Volkskultur Fußball auf den Mund schauen ("Heimvorteil", MusicMail 2008). Bortlik etwa kommt zu dem ganz grundsätzlichen Schluss: Fußball ist Fußball.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!