Kolumne Die Farbe Lila: Der Weg in die rosa Hölle
Neun Monate lang mussten wir warten, viel wissen wollten wir nicht. Nun ist sie da: Unsere neue Mitbewohnerin spuckt alles voll.
S eit drei Wochen lebt ein kleiner Mensch in meiner Wohnung. Dieser kleine Mensch ist genau genommen ein kleines Mädchen. Bis zum Tag ihrer Geburt wussten der Mann und ich nicht, ob wir eine Tochter oder einen Sohn bekommen würden. Dann kam das Kind auf die Welt und die Hebamme sagte: "Ein Mädchen!" Und band unserer Tochter ein rosa Armband mit ihrem Namen darauf um.
In den neun Monaten davor war der Entschluss, das Geschlecht unseres Kindes nicht wissen zu wollen, oft auf Unverständnis gestoßen. Immer wieder fragten Freunde und Bekannte: "Seid ihr nicht neugierig?" Klar waren wir neugierig. So neugierig wie auf Weihnachtsgeschenke. Aber aus dem Alter, in dem ich den Kleiderschrank meiner Mutter nach Geschenken durchsuchte, bin ich mittlerweile heraus. Ich kann warten. Auch ganze neun Monate lang, auf den einen Satz der Hebamme.
Wir versuchten, uns den kopfschüttelnden Freunden zu erklären. Wir hatten zwei Gründe. Der entscheidende und wichtigere: Es war uns einfach egal, wir freuten uns auf das Kind, ganz gleich ob Mädchen oder Junge. Der zweite, nicht so entscheidende, aber auch nicht unwichtige Grund: Ich hoffte, so wenigstens bis zur Geburt des Kindes einem gegenderten Tornado an Babyklamotten zu entkommen. Bis heute habe ich keine Kinderabteilung betreten. Mir reichte schon der Blick von der Rolltreppe aus in die rosa und hellblaue Hölle.
SUSANNE KLINGNER ist Mitautorin des Buches "Wir Alphamädchen" und bloggt auf mädchenmannschaft.net.
Große Menschen schenken aber zur Geburt von kleinen Menschen gern putzige Strampler und Mützchen und Lätzchen, und ich kann diesen Menschen schlecht Vorschriften machen, welche Farbe ihr Geschenk haben soll. Weil aber die Klamottenproduzenten für Menschen unter 60 Zentimeter nur die Farben Rosa und Hellblau zu kennen scheinen, beschwerte sich eine Freundin: "Dann weiß ich ja gar nicht, welche Farbe ich kaufen soll!" - "Irgendeine halt. Bunt!", war meine Antwort, die aber bei der Freundin nur hochgezogene Augenbrauen auslöste. "Ich geb dir gern die Nummer meiner Frauenärztin, vielleicht lässt sie sich überreden, dir das Geschlecht des Kindes zu sagen", zog ich sie auf. "Pfff", antwortete sie nur, und: "Dann kauf ich halt was Gelbes." Sehr gern.
Ein erschreckend großer Teil unserer Bekannten glaubt, kleine Babymädchen dürften nur die Babymädchenfarbe Rosa tragen - und sind noch dazu der Überzeugung, das sei die "natürliche" Farbe für ein Mädchen; ungeachtet der Tatsache, dass noch vor rund hundert Jahren kleine Babyjungs Rosa und die Mädchen Hellblau trugen. Deswegen werden nun seit der Geburt doch rosa Klamöttchen in unsere Wohnung getragen. Dem Kind ist es egal, es ist da nonchalanter, als ich es bisher war. Es spuckt einfach alles voll, was es gerade am Leib trägt. Dem Kind ist genauso egal, dass es die meiste Zeit die Berge hellblauer Strampler, Hosen und Hemdchen seiner drei Neffen aufträgt.
Sie hat meinen Hass auf all das Rosa da draußen in der Welt und auf die damit verbundene unausgesprochene Aufforderung für Mädchen, sich nur nicht schmutzig zu machen, sogar schon gemildert: Wenn es später in rosa Kleidchen genauso freudig in Matschpfützen springt, wie es jetzt spuckt, und sich beim Ballspielen Grasflecken zuzieht, anstatt sich von Schmutz und Abenteuer fern zu halten, dann kann es tragen, was es will. Es muss keine lila Latzhose sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Gedenken an den Magdeburger Anschlag
Trauer und Anspannung
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml