Kolumne Das Schlagloch: Von Kind bis kindlich
Wir sind eine Gesellschaft der Oberseminaristen, für Erziehung längst zu klug.
Das Folgende ist ein Versuch, ein seltsames Vorhaben auf einer Meinungsseite: Es ist der Versuch, keine Meinung zu haben. Denn jede wäre anders voreilig. Es ist das Protokoll einer Ratlosigkeit.
Sie begann vor drei Monaten. Ich war in einem SOS-Kinderdorf an der Südspitze Indiens, in Kerala. Das Dorf liegt auf einem Hügel, so dass ein Kind hier unbewusst in der Illusion groß wird, die Welt sei etwas, auf das man heruntergucken kann. Das Dorf ist angelegt wie ein großer tropischer Garten. Die Kinder bestellen ihn ganz früh am Morgen, ehe der Tag zu heiß wird. Noch so eine Illusion über das Dasein. Die Welt ist kein Garten und der Mensch ein miserabler Gärtner, global gesehen. Aber die Illusion ist wohl richtig. Weil die Kindheit ein Schutzraum ist, eine Welt mit eigenem Binnenklima. Selbst unsere Reformpädagogen haben sich angewöhnt, von Kindheitsräumen als von Treibhäusern zu sprechen.
Ein gutes Jahrhundert ist vergangen seit der Entdeckung der Kindheit. Seit der für alle hörbar ausgesprochenen Erkenntnis, dass ein Kind kein unvollkommener, von bösen Geistern besessener Erwachsener ist, ja im Gegenteil: Die schwedische Reformpädagogin Ellen Key diagnostizierte die "Majestät des Kindes". Keys Buch, 1902 auf Deutsch erschienen, trug den prophetischen Titel "Das Jahrhundert des Kindes". Sie hat recht behalten. Es ist sein Jahrhundert geworden. Es war eines des bis dato unvorstellbaren Schreckens, aber für die Frauen und die Kinder war es das einer bis dato unvorstellbaren Befreiung.
Bloß - mit welchem Ergebnis? Studien stellen immer wieder fest, dass heutige Erwachsene immer weniger zu Erziehern ihrer Kinder taugen. Politiker fordern die Erziehung der Erzieher, Kurse für Eltern also.
37 Jungen und 149 Mädchen leben im 1990 eröffneten SOS-Kinderdorf Cochin. Es sind meist über zehn Geschwister, die gar keine sind, denn jedes Kind hat seine Ursprungsfamilie verloren. Und ihre Mutter ist nicht ihre Mutter, aber die Mädchen und Jungen vergessen das bald. Familien wie diese hat der früh elternlose Österreicher Hermann Gmeiner sich vorgestellt, als er nach dem Krieg die Kinderdorf-Idee hatte: Familie statt Heim, statt Waisenhaus. Jede Familie lebt, kocht und wäscht für sich, kauft für sich ein und hat doch die große schützende Gemeinschaft des Dorfes um sich. Das Einzige, was hier anders ist: Es gibt keine Väter, keine Männer - abgesehen vom Kinderdorfleiter und seinem Stellvertreter. Und noch etwas war anders. Am zweiten Tag im Dorf merkten wir, dass etwas nicht stimmte. Es brauchte noch einen Tag, bis ich plötzlich wusste, was es war: die Geräusche.
Wir lebten hier rund um die Uhr unter zweihundert Kindern mit nur wenigen Erwachsenen. Das müsste sich anhören wie ein großer Spielplatz, 24 Stunden geöffnet. Das anarchische Element müsste längst die Herrschaft übernommen haben, vor allem die akustische. Wir, die Besucher, konnten 200 Kinder unmöglich eingeschüchtert haben, ungewohnte Zurückhaltung hält nicht über Tage.
Kinder, denkt man, sind überall gleich. Sie sind einer der wenigen gemeinsamen Nenner, die die Welt hat. Und wenn sie doch nicht gleich sind? Wenn sie vielmehr ein Spiegel der Erwachsenen sind? Wir besuchten die Familien und unser Blick war nun anders aufmerksam, fast ein wenig misstrauisch. Aber da war keine vorgeführte Harmonie, nichts von dem Familienstress spürbar, der bei uns so alltäglich ist. Es war nur so, als ob jeder seinen Platz kannte und ihn wie selbstverständlich einnahm.
Wir kennen unsere Plätze nicht mehr. Wir sind lebenslang auf der Suche nach ihnen und akzeptieren keine höheren Platzanweiser. Das ist unser ganzer Stolz, unsere Überlegenheit, unsere Botschaft. Der Platz einer Großmutter, der Platz einer Enkelin - nichts ist mehr definiert.
"Max will duschen!", sagte ein vielleicht zehnjähriges Mädchen hinter mir in der Straßenbahn, hielt seiner Oma einen Plüschhasen ins Gesicht, und ich wusste augenblicklich, dass ich wieder zu Hause war. "Und ich will auch duschen. Mit Max." Das Mädchen brauchte fünf Stationen, um seine Großmutter an die Grenze ihrer Reaktionsfähigkeit zu bringen. Das war offener Psychoterror, nicht einmal bewusst boshaft, vielleicht nur, weil Straßenbahnfahren mit Omas langweilig ist. Und es gab keine Möglichkeit für die ältere Frau, sich dem zu entziehen. Hätte sie ihrer Enkelin besser nicht widersprochen. Stofftiere sind waschbar. Heute. Sie wird das lernen, so funktioniert Erziehung. Statt der Enkel lernen ab jetzt die Großmütter. Und sie müssen das auch. Denn der stärkere Platzsucher gewinnt. Nichtindische Kinder sind Mittelpunktskinder, sie sind stärker als Erwachsene, denn ihre Vitalität ist noch ungebrochen und unverbraucht. Immer mehr Großeltern und Eltern sind heute auf das Wohlwollen ihrer Kinder angewiesen.
Nur Tage später sah ich ein Mädchen vor einer privaten Musikschule in Prenzlauer Berg. Es war ein gänzlich unindischer Ausdruck in ihrem Gesicht, ein zugleich sehr unkindlicher Ausdruck wie: Ich kenne meine Rechte!
Rainer Maria Rilke hatte 1902 eine erste begeisterte Rezension über "Das Jahrhundert des Kindes" geschrieben: "Die Kinder sind der Fortschritt selbst, und was sie (Ellen Key) mit ihrem Buche lehren und sagen und raten will, ist immer wieder dieses: vertraut dem Kinde … Freie Kinder zu schaffen, wird die vornehmste Aufgabe dieses Jahrhunderts sein. Ihr Sklaventum ist schwer und schrecklich; es beginnt noch eh sie geboren sind, und endet damit, dass sie schließlich Erwachsene und Eltern, das heißt, wieder Unterdrücker von neuen Kindern werden." Aber der Dämon im Kind, den wir über ein Jahrhundert lang über der Anrede "Majestät" vergessen hatten - er ist wieder sichtbar. Rilke selbst war seiner Tochter Ruth ein denkbar schlechter Vater. Was er liebte, war das Kind in sich. Ein real existierendes Kind ist etwas anderes. Die kleine Ruth rächte sich, indem sie ihren Vater, der sie meist Weihnachten besuchte, bald nur noch "Mann" nannte.
Vielleicht war die Befreiung des Kindes nicht zuletzt eine sehr narzisstische Angelegenheit, so narzisstisch wie unser Zeitalter. Vielleicht werden die Rilkes immer mehr unter uns, und da nützen nicht einmal Erziehungskurse für Eltern. Im Gegenteil. Wir können das Kind wunderbar deuten, aber zum Erziehen sind wir schon zu klug. Warum einem Kind Regeln, Konventionen nahebringen, wenn man Konventionen, Tischsitten inklusive, für etwas Sekundäres hält? Obwohl man die Regel kennen sollte, die man übertritt. Nur welchem Kind will man diese Erziehungsabsicht erklären?
Seltsam genug trifft man in Indien, diesem Land mit so vielen fremden Bräuchen, überraschend viele Männer und Frauen, für deren Ausstrahlung man ein Wort sucht und zuletzt immer dasselbe findet: Reife, menschliche Reife, das gemeinsame Kind von Denken und Erfahrung. Dagegen wirken wir oft wie eine Gesellschaft von Oberseminaristen, kindlich auf eine ungute Art. Wenn das keine Meinung ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Anbrechender Wahlkampf
Eine Extraportion demokratischer Optimismus, bitte!
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund