Kolumne Das Schlagloch: Deutsche im Herbst
Von der gar nicht mütterlichen Merkel und ihren unbarmherzigen Schwestern.
W enn der Regierung das Volk nicht passt, hat Bert Brecht mal gespottet, dann solle sie es doch auflösen und sich ein neues wählen. Sieht so aus, als würde genau dies gerade passieren. Die Merkel/Westerwelle-Regierung wählt sich nicht gerade ein neues Volk, es ist ja auch gerade kein passendes frei, aber sie erfindet sich ein genehmes Volk, indem sie nach ihrem Belieben definiert, wer dazugehört und wer nicht. Kunststück, man kann ja auch definieren, was man unter arbeitslos, unter systemrelevant und unter Demokratie versteht und wo die Grenzen zwischen deutscher Intelligenz und Kopftuchmädchen verlaufen.
Unterbezahlte Staatshooligans
Insofern haben uns, ohne allzu zynisch zu sein, die vermummten, fehlgeleiteten, frustrierten jungen Männer und Frauen in Stuttgart, die schlecht bezahlten, von politischen Zündlern aufgewiegelten und von Sympathisanten bis in bürgerliche Kreise hinein unterstützten Staatshooligans, man nennt es auch "Bereitschaftspolizei", doch einen Gefallen getan. Sie haben den Kern schwarz-gelber politischer Herrschaft sichtbar gemacht.
Konnte man früher von einer "guten bürgerlichen Mitte" sprechen, in deren Namen die Staatsgewalt gegen "außer Rand und Band geratene" Minderheiten eingesetzt wurde, so sehen wir in Stuttgart die Gewalt einer außer Rand und Band geratenen wirtschaftshörigen Obrigkeit gegen ihre "gute bürgerliche Mitte". Eine Regierung wie die von Merkel und Westerwelle braucht Banken und sie braucht Medien. Ein Volk braucht sie offensichtlich nicht mehr.
Das Zweite, was sich offensichtlich ändert, ist die Präsenz der unendlich vernetzten Bildermaschinen. Früher war es für eine von der Allianz aus Staat und Kapital angegriffene Minderheit extrem schwierig, eine Form der "Gegenöffentlichkeit" herzustellen. Eine diskursive Gegenöffentlichkeit herzustellen ist in der Herrschaft der medialen Blödmaschinen wohl eher noch schwieriger geworden. Aber die Bilder lassen sich nicht unterdrücken. Und sie entlarven nicht nur die Lügen der Polizeiführung und der Politiker in Echtzeit. Sie verbreiten nicht nur die Details dieses Bürgerkriegs von oben. Das Bild der fallenden Bäume im Park brennt sich auch als ein Dokument der Barbarei ein. Nicht konkreter Mensch und nicht erhabene Natur ist sicher, wo die Immobiliengier des flüchtenden Kapitals herrscht. Übrigens ist es natürlich reiner Zufall, dass wir gerade jetzt erfahren, dass sich in keiner anderen Stadt Deutschlands die Mafia so festsetzen und sich ausbreiten kann wie in Stuttgart.
Unser Wirtschaftskasperle
Der taktische Sinn des Polizeieinsatzes in Stuttgart ist nur zu deutlich: Es geht nicht allein um die Abwehr von Kritik und Protest, es geht um ihre Verhöhnung. Darüber hinaus ist die Spaltung der "Demonstranten" in einen ängstlich-friedlichen und in einen zornig-widerständigen Teil das Ziel. Zur gleichen Zeit werden Fakten geschaffen. Auch die Klientel einer Merkel/Westerwelle-Regierung beginnt sich unter dem Eindruck einer solchen Vorgehensweise zu spalten. Die Balance zwischen dem Liberalen und dem Konservativen im deutschen Bürger kommt zu Fall; die Regierung mit dem Wirtschaftskasperle Westerwelle (ich wette meine Talking-Heads-Raritäten gegen ein Helmut-Kohl-Autogramm, dass er als einer der schlechtesten Politiker der Nachkriegszeit in die Annalen eingehen wird) und der so gar nicht mütterlichen Merkel und ihren unbarmherzigen Schwestern im Kabinett verliert in der Mitte, was sie rechts mit ihren Hardlinern nur auf höchst kontaminierte Weise gewinnt.
ist Publizist und Filmkritiker und lebt in Kaufbeuren. Er hat über 20 Bücher zum Thema Kino und Starregisseure geschrieben. An dieser Stelle schrieb er zuletzt über die Toten in Duisburg: "Gefährliche Ordnungsmacht".
Was aber zum Teufel kann noch konservativ sein, wenn man unentwegt demonstriert, dass das Einzige, was man für erhaltenswert erachtet, die eigene Macht ist? Kein Wunder also, dass neue Kräfte in die von den unsozialen Sozialdemokraten und den unchristlichen Christdemokraten selbst entleerte Mitte drängen. (Auch an den Rändern tut sich was, aber das ist eine andere Geschichte.) Die Westerwellesche Postspaßpartei hat ihre Fähigkeit, ein auch moralisch denkendes liberal-konservatives Bürgertum zu repräsentierten, nachhaltig verspielt, die SPD müsste sich von ihrer Agenda 2010 so offen verabschieden, wie man sich in England von "New Labour" verabschiedet, und die idiotische Abgrenzerei von der Linken aufgeben. Macht sie aber nicht. Bleibt als Repräsentanz für eine bürgerliche Mitte, die gewiss keine Revolutionen, Konservatismus in bescheidenen Dosierungen, keinen Außer-Rand-und-Band-, sondern einen dezenten Kapitalismus will, eigentlich nur eine Partei: die Grünen.
Bleiben nur die Grünen?
Ob das wirklich so gut ist für die Partei einerseits, für uns andrerseits? Schwer zu sagen. Die Mitte ist nicht nur ein etwas langweiliger, sondern auch ein korruptionsanfälliger Ort. Die Grünen sind umso erfolgreicher, je weniger sie an den Verhältnissen ändern. Ihre Repräsentanten werden immer "bürgerlicher", und die Grünen als Bewegung verlieren den Schwung. Sie sind die "eigentlichen" Konservativen, natürlich auch die "eigentlich" sozialen und gewissermaßen auch die "eigentlich" Liberalen, und damit versprechen sie, die historischen Widersprüche aus der Geschichte der bürgerlichen Klasse zu überwinden. Im grünen Label könnte man derzeit das einzige Projekt des Bürgertums sehen, sich noch einmal zu erfinden. Das Label für gutes bürgerliches Gewissen und der unverbindliche politische Rahmen für höchst unterschiedliche Impulse und Koalitionen erzeugen gemeinsam eine Art der "vernünftigen Gemütlichkeit" und des moralischen Pragmatismus, eine politische "Heimat" für einen Stand, der so was dringend braucht.
Als Vertreter der allerneuesten Mitte sind die Grünen wahlweise ganz okay (was hätten wir denn sonst zu bieten?), die Lizenz zum vertüttelten Leben oder der gerade Weg zur Selbstaufhebung einer einst oppositionellen Bewegung. Zu retten ist diese Klasse, die sich da noch einmal eine Idee geben will, ohnehin nicht, und zum Risiko ihres Untergangs fragen sie Ihren Soziologen oder Ihre Philosophin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs