Kolumne CannesCannes: Und jetzt die Brille, bitte!
In dem 3-D-Animationsfilm "Up" sieht man einem Traum im Augenblick des entstehens zu - und lernt, dass Pläne etwas sind, wovon man sich im richtigen Augenblick verabschieden muss.
"So, jetzt setzen Sie bitte alle mal Ihre Brillen auf", sagt Thierry Frémaux, der Leiter der 62. Filmfestspiele von Cannes. "Für unsere Fotografen." Die Fotografen stehen auf der Bühne der Salle Debussy. Gleich beginnt die Pressevorführung von "Up" ("Oben"), dem 3-D-Animationsfilm, der das Festival eröffnet. Im Publikum halten viele ihre Mobiltelefone in die Höhe und fotografieren sich gegenseitig. Als Frémaux bittet, die Brillen später zurückzugeben, geht ein enttäuschtes Seufzen durch die Reihen.
Der Film beginnt passenderweise selbst in einem Kinosaal, zwei Brillen sind auch involviert: Ausdruck jener verspielten Selbstbezüglichkeit, für die das Pixar-Studio, das "Up" produziert hat, so berühmt ist. Carl, ein kleiner Junge, sieht eine Wochenschau in Schwarz-Weiß. Berichtet wird darin von einem Forschungsreisenden namens Charles Muntz. Den Dschungel Venezuelas erkundet er mit einem Luftschiff, dabei entdeckt er einen Landstrich aus hoch aufragenden Felsnadeln, mächtigen Hochplateaus und einem imposant in die Tiefe donnernden Wasserfall. Der kleine Junge im Kinosessel trägt seine gewöhnliche Brille, jedes Mal, wenn ihn die Bilder dazu einladen, sich mit Muntz zu identifizieren, schiebt er sich dazu noch eine Fliegerbrille ins Gesicht. Derweil gewöhnen sich die Zuschauer noch an ihre 3-D-Brillen.
Als sich im weiteren Verlauf der Wochenschau herausstellt, dass die etablierten Wissenschaftler dem Abenteurer Muntz nicht glauben, leidet Carl sichtlich mit seinem Vorbild mit. "Up" schafft in dieser Eröffnungssequenz noch etwas mehr, als das bebrillte Publikum in einem bebrillten Filmhelden zu spiegeln. Man sieht einem Traum im Augenblick seines Entstehens zu. Die Paradies-Fälle werden Carl ein Leben lang als Wunschbild begleiten.
Doch erst einmal muss dieses Leben geführt werden, und dazu arbeitet "Up" mit einem eleganten Zeitraffer. Carl heiratet, baut mit seiner Frau ein Haus, bekommt keine Kinder, altert, wird Witwer und schließlich zum "grumpy old man". All das in wenigen Filmminuten. Erst jetzt lässt der Regisseur Pete Docter "Up" volle Fahrt aufnehmen. Carls Haus hebt vom Boden ab, tausende bunter Luftballons halten es in der Luft. Ziel der Reise sind die Paradies-Fälle; an Bord befinden sich Carl und ein blinder Passagier, der Pfadfinder Russel. In den Szenen, die in der Luft spielen, sind die 3-D-Effekte am eindringlichsten. Zu sehen, wie aus dem Zusammenspiel von Haus, Ballons, Wolken und Azurblau ein tiefer Raum entsteht, ist frappierend. Nachdem Carl und Russel im Dschungel gelandet sind, muss der alte Mann viel lernen: Dass Pläne etwas sind, wovon man sich im richtigen Augenblick verabschieden muss. Dass man erst dann den ganzen Reichtum seiner selbst entdeckt, wenn man zulässt, dass sich das Selbstbild verändert. Das ist eine etwas zu penetrante Mischung aus psychotherapeutischem Wissen und "Überwinde dich selbst!"-Rhetorik. Ausgleich schafft, dass Docter genug Detailverliebtheit an den Tag legt, um einen Regenbogen in den Wasserfall hineinzuanimieren. Den schönsten Paradiesvogel, der je einen Trickfilm durchflatterte, hat "Up" allemal: Es ist ein putziges Weibchen, das sich nicht daran stört, auf den Namen Kevin zu hören.
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