Kolumne Cannes Cannes 6: Schauplatz Familie
Zweimal Psychodrama vom amerikanischen Doppel. Die neuen Filme von Jeff Nichols und Jonathan Caouettes werden beim Filmfestival vorgestellt.
M ontagmorgen, kurz nach acht, am Gatter vor dem Grand Théâtre Lumière. In 25 Minuten soll "The Tree of Life", der lang erwartete neue Film von Terrence Malick, gezeigt werden. Brad Pitt spielt mit, Sean Penn auch.
Die Journalisten drängen sich, in den Saal gelassen werden nur solche, die privilegierte Akkreditierungen haben, meine hat einen Punkt zu wenig. Ich stehe in einem Pulk, es wird gedrückt und geschoben, die Saaldiener erklären nicht, was vor sich geht. Ein Franzose, der dicht hinter mir steht, brüllt "Putain!", eine Italienerin ruft einer Saaldienerin zu: "Stronza di merda", eine Amerikanerin fragt laut: "Cant you explain whats going on, like a civilized person would do?" Der Zeitungsverkäufer, der Libération verkauft, ruft "Libé, Libé", was ein Raunen durch den Pulk gehen lässt: "Libération!" - "Befreiung!"
In der Zwischenzeit sind zehn weitere Saaldiener aufmarschiert, und drei Polizisten beziehen Stellung am Rand des Gatters. Ein TV-Team interviewt und filmt die empörten Leute. Gegen 8.40 Uhr zerstreut sich die Menge. Mir bleibt die Hoffnung, Malicks Film in einer Nachholvorführung zu besuchen.
CRISTINA NORD ist Redakteurin im taz-Ressort Gesellschaft, Kultur, Medien.
Bausand und Albträume
Fürs Erste sollen zwei andere Americana genügen: Jeff Nichols "Take Shelter" und Jonathan Caouettes "Walk Away Renee", beide aus der Nebenreihe "Semaine de la Critique". Nichols Debüt "Shotgun Stories" (2007) lief unter anderem im Forum der Berlinale und fand viel Beachtung, weil der 1978 geborene Regisseur das Westerngenre auf zwingende Weise zu modernisieren wusste.
Der neue Film handelt von einem Mann um die 30, er spielt auf dem flachen Land Ohios. Eigentlich könnte der Protagonist glücklich sein - er hat ein reizendes Haus, eine reizende Frau und eine reizende Tochter, außerdem eine Stelle bei einem Unternehmen, das Bausand gewinnt. Doch dieser Curtis (Michael Shannon) wird von Albträumen heimgesucht. Ein Sturm zieht auf, gelber Regen fällt in Strömen, Menschen und Tiere werden aggressiv, später verdunkeln Schwärme schwarzer Vögel den Himmel, noch später klatschen sie tot auf der Straße auf.
Weder der Hausarzt noch die Therapeutin verhindern, dass Curtis Träume in seinen Alltag einsickern. Aus Angst baut er den unterirdischen Schutzraum in seinem Garten aus. Nachdem seine Frau ihn im Traum bedroht hat, zuckt er zusammen, sobald sie ihn am Frühstückstisch am Unterarm berührt. "Take Shelter" hat ein schönes Gespür für das sommerliche Ambiente im Bible Belt, für den Schweiß auf der Haut von Curtis, für seine sandigen Hemden und die feuchte Erde des Gartens.
Wie der Film das Psychodrama seines Protagonisten entfaltet und um Elemente des Horrorfilms ergänzt, ist bemerkenswert; einzig die Schlussvolte macht den Film harmloser, als er hätte sein können.
Jonathan Caouette, 1973 in Houston geboren, zeigte 2003 "Tarnation" in der "Quinzaine des Réalisateurs". Es war ein herausragendes Debüt, ein wagemutiger, enorm persönlicher Film über die eigene Familie. Die von psychotischen Schüben geplagte Mutter des Regisseurs, Renee, wäre 2002 beinahe an einer Überdosis Lithium gestorben, das war der Anlass seines ersten Films. Caouette hat sich und seine Familie gefilmt, seit er ein Teenager war, dieses Material montierte er zu "Tarnation", und auch in "Walk Away Renee" kombiniert er alte Home Movies mit aktuellen Aufnahmen - wenn auch weniger zwingend und überraschend als im Debüt.
Psychopharmaka weg
Der Film handelt von einem Intervall in Renees langer Hospitalisierungsgeschichte: Mutter und Sohn fahren im Umzugswagen von einem Heim in Texas zu einem Heim auf Long Island. Renee sitzt auf dem Beifahrersitz und singt Gospel: "Hes got the whole world in his hands." Sie übernachten in Motels, essen in Schnellrestaurants, doch eines Morgens sind die Psychopharmaka verschwunden - und kein Arzt ist bereit, ein neues Rezept auszustellen.
In den ersten Szenen des Films besucht Caouette eine Sekte, die Cloudbuster. Sie hoffen, in die vierte Dimension vorzudringen und dort ein "Mutter-Universum" zu finden, in dem alles warm und wohlig ist.
"Walk Away Renee" erschließt ein Mutter-Universum, das für immer aus den Fugen ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!