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Ambros Waibel
Kolumne
von Ambros Waibel

Ein Versuch über die Gefahren der großen Müdigkeit in der Knautschzone Bahnsteigkante. Oder: Die Deutschen essen immer.

Die sind nicht gemeint: Fröhliche Models auf der Messe „Curvy is Sexy“ Bild: dpa

K ürzlich stand ich am Hauptbahnhof, ich war hellwach, wie man hellwach ist, wenn man sich vollkommen übermüdet mit einem Kleinkind auf eine sechsstündige Zugfahrt begeben will.

Es waren gar nicht so viele Leute am Gleis, aber die, die hier warteten, hatten in ihrer Mehrzahl unförmige Schaumstoffteile verschluckt, sie konnten sich nicht mehr bewegen, wie angeleckte Marshmallows schienen sie am Boden festgepappt. Ich musste, während ich mich, mein Kind und unser Gepäck um die leise schnaufenden Flusspferde herummanövrierte, an etwas denken, an das ich als Bayernfan sonst nie denke: an Dortmund. Ciro Immobile fiel mir ein und sein Satz über die Deutschen: „Sie essen immer.“

Tatsächlich hatte der Lewandowski-Ersatz mit dieser Beobachtung endlich mal ins Schwarze getroffen (ja ja, am Dienstag dann auch gegen Arsenal).

Denn wenn es auch auf den ersten Blick überhaupt nicht so aussah, als hätte Nahrung menschliche Körper in Knautschzonen verwandeln können, so half doch die Erinnerung an all die Würste, Brote, Pizzen, Backfische und mayonnaisetriefenden belegten Brötchen, die Eisbomben, Donutberge und Brezelbuden, die den Weg zum Bahnsteig säumten, um sich eines Besseren belehren zu lassen.

Nein, diese Menschen hatten nicht die Ikea-Bauanleitung falsch verstanden und sich mit Verpackungsmaterial vollgestopft: Sie waren einfach so fett, geistig fett, emotional fett, unglücklich fett, asexuell fett, dumm fett, unverschämt fett.

Hoeneß-Würstchen

Ich sah kein lustiges Rotweinschlotzergesicht, keinen genießenden Austernschlürfer, keine prallen Bierbäuche, um die sich stolze Hosenträger schmiegten.

Es war eine weiche Masse, die sich auf die Reise begab, um am Ziel an den gleichen Ständen, mit den gleichen Inhaltsstoffen die gleichen Bedürfnisse zu befriedigen und sich dann weiter zu wuchten, in die Fastfoodketten der Innenstädte, in die Lidls und Aldis und Nettos mit ihren XXL-Packungen, an die Frühstücksbuffets mit ihren Hoeneß-Bratwürstchen und warmgehaltenen Rühreiern mit Speckstreifen, ihren aufgebackenen Kross-Brötchen, ihren Edamer- und Goudaplatten, ihren Pur-Fett- Porc-Salamis, ihrem Alibi-Joghurt, ihren Zuckerfrühstücksflocken und ihrem Altobst.

Kurz: Ich war in schlechter Stimmung, als ich den Zug bestieg.

Und ich wusste natürlich, dass diese Suada nicht das letzte Wort sein konnte, denn es gab ja für alles Gründe, für die aufgeschwemmten Massen, die IS- und AfD-Massen, die Nichtwähler- und NPD-Wähler-Massen, die schottischen und britischen Massen, die separatistischen und die rechtsradikalen Massen.

Ich wusste, dass die Masse sich aus ehemaligen Individuen zusammensetzte, dass es Gründe gab, warum die zu dem geworden waren, was sie möglicherweise nie hatten werden wollen, und dass ich nicht aufhören durfte, die Menschen nicht danach zu beurteilen, was sie waren, sondern was sie sein konnten beziehungsweise was sie einmal gewesen waren, weil sonst meine eigene Menschlichkeit Schaden nehmen würde.

Aber in diesen Momenten, auf dem Bahnhof, in dem sich endlich in Bewegung setzenden Zug: Da war ich dafür einfach zu müde.

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Ambros Waibel
taz2-Redakteur
Geboren 1968 in München, seit 2008 Redakteur der taz. Er arbeitet im Ressort taz2: Gesellschaft&Medien und schreibt insbesondere über Italien, Bayern, Antike, Organisierte Kriminalität und Schöne Literatur.
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