Kolumne Blagen: Hundert Tage Rückgaberecht
Die Einssechzigblondine ordert Cocktailkleider für den Abiball. Beim Online-Versand, wo laut Werbung die Leute ausflippen, wenn der Paketbote vor der Tür steht.
N och ein paar Wochen, dann hat die Einssechzigblondine Abi. Geb’s Gott, dass die Zeit schnell vergeht. Denn die so genannte Vorbereitungszeit stellt sich bei ihr als eine Art Dauerschlafphase dar, nur unterbrochen durch Ausflüge in die Berliner Clubszene und nächtliche Spaghettimassaker. Eher selten durch Lerngruppen, wo sich dann an unserem Esstisch Pia, Naddel und unsere Tochter über ihre Mathebücher beugen.
Schon klar, das Ding ist eh gegessen – aus der Einssechzigblondine wird nach 13 Jahren Schule nicht überraschend ein Mathe-Ass, nur weil es jetzt ums Abi geht. Da hat auch sie keine Illusionen. Was sie hingegen fester als ihre Punkte in den Blick genommen hat, ist der Abiball. Beziehungsweise ihre Garderobe.
Es gibt ja da diesen Online-Versand, wo laut Werbung die Leute komplett ausflippen, wenn der Paketbote vor der Tür steht. Da hatte sich die Einssechzigblondine was ausgesucht. Drei Kleider – seltsame Cocktailkreationen, wie ich fand. Aber sie beschied mich, dass eine Frau meines Alters naturgemäß nichts von zeitgemäßer Kleidung verstünde – dass sie mich aber noch so weit für zurechnungsfähig halte, mit meiner Kreditkarte die drei Fummel zu kaufen. Was nicht passt oder gefällt, würde sie höchstpersönlich per Post zurückschicken. „Ganz cool“, sagte sie, „wir haben hundert Tage Rückgaberecht. Portofrei.“
Ich war blöd und alt genug, zu ordern. Zwei Tage später kam das Paket. Die Einssechzigblondine verfiel nicht in hysterisches Kreischen, sondern schleppte wortlos die Beute in ihr Zimmer, schloss die Tür von innen und erschien zehn Minuten später wieder. „Die sehen scheiße aus“, sprach sie und nahm ihre Laptop-Handy-Fernbedienung-Grundposition vor dem Fernseher ein. Kein Danke. Kein Ich-kümmer-mich-drum. Ich sagte: „Du denkst dran: du schickst das zurück.“ – „Hundert Tage, weißte doch“, antwortete sie. Ich trollte mich.
Nach vier Wochen war immer noch nichts passiert. Natürlich hatte ich ein paar mal nachgehakt: „Du hast mir versprochen …“ Aber derlei führte bei ihr eher zu toxischer Stimmungseintrübung. Irgendwann hatte ich einen freien Tag. Die Ballkönigin war nicht zu Hause. Ich ging trotzdem in ihr Zimmer, schnappte die Kleider, schloss den Karton, klebte das Adressetikett auf – und fünf Minuten später war die Sache erledigt.
ist Parlamentsredakteurin der taz.
Abends sagte ich zur Einssechzigblondine bedenkenswerte und pädagogisch wertvolle Sätze, die sie mit „Ja sorry, aber ich hatte noch siebzig Tage“ quittierte. Ich fühlte mich wie der größte elterliche Trottel unter der Sonne, schmollte noch ein Viertelstündchen und vergaß die Angelegenheit.
Gestern Abend nun – Pia und Naddel waren gerade gegangen, die Einssechzigblondine hatte die Grundposition eingenommen – drehte sie ihren Laptopbildschirm in meine Richtung. Was sah ich? Die Schreipaket-Seite, auf der kopflose Modelle Abendgarderobe zur Schau stellten. „Das und – Moment! – das hier will ich.“ Ich sagte: „Wie bitte!?“ Sie sagte: „Jetzt mach schon! Ist kein Risiko, und hundert Tage Rückgaberecht. Portofrei.“ Ich sagte: „Wie wär’s wenigstens mit einem Bitte?“ Sie: „Mann, du nervst.“ … Hier lasse ich jetzt zweieinhalb Zeilen frei: -------------------------------------------------------------------------------------------- -------------------------------------------------------------------------------------------- --------------------------------------------Ich freue mich über pädagogischen Rat. (Rumgebrüllt hab ich schon.)
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