Kolumne Ausgehen und Rumstehen: Aufmerksamkeitsschaben
Tanzen für Geflüchtete, konzentriertes Zuhören und die Suche nach dem Jetzt: Unterwegs im Berliner Nacht- und Tagleben.
Das Leben steht und fällt mit Deterritorialisierung. Ob in der U-Bahn, über Kontinente hinweg oder in der Musik. Am Freitag kommt es um 9.37 Uhr zur ersten Grenzüberschreitung des Tages. Ein Mann, hastig auf seinem morgendlichen Kreuzweg, läuft in die zum Lesen aufgefaltete Zeitung.
Darin: Die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne betrug 2000 zwölf Sekunden, heute sind es noch neun. In der Politik siegt das Kurzfristige wieder gegen das Langfristige: Dass schon bald das Eis der Arktis geschmolzen sein wird, interessiert niemanden, aber alle stürzen sich auf eine Frau, die das Land, in dem sie zufällig lebt, Grüße an de Mazière, vom „Fremden befreien“ möchte.
Ohne das, was sie das Fremde nennt, wäre der Wedding luftleerer Raum. Kein Zufall also, dass hier, in einem Hinterhof das „Disappearance Refugee Benefit“-Konzert des Labels „Ausschuss“ stattfindet, dessen Einnahmen lokalen Flüchtlingsorganisationen zukommt.
Auch hier, in der ruinösen Fabrikhalle passiert ständig Deterritorialisierung, durch die sich ein Gebiet erst erschließt, wie bei den Pantern, die ihren Lebensraum nur zum Jagen verlassen. Lauernd stehen alle herum, als die tunesische DJ Cera Khin dem wundervoll queeren Publikum abstrakten Dancehall und Breakbeats zum Fraß vorwirft – mit einer solchen Chuzpe, dass alle, bis auf einen grazilen jungen Mann, der es allen vormacht, ganz erstarrt sind vor Hüftsteifheit.
Nie ankommen, immer im Jetzt sein
Später wird Laurel Halo das Eis brechen, indem sie wabernde Bässe und düstere Drones mit lebensbejahenden Funk mischt. Und ein müde wirkender Yves Tumor, der als Prince des Internetzeitalters gilt, verlässt die vernebelte Bühne mit wie aus dem Nichts dahin gemeinten Worten „Fuck the police“.
Im Café am Samstag simulieren, untermalt von stoischer Muzak, zwei auf ihre Handys starrende Kinder erwachsene Menschen, die an der Bar sitzen und auf ihre Handys starren. Sollten sie nicht, statt ihr von schnellen Reizen perforiertes Selbst zu bestätigen, eigentlich draußen sein, um im Dialog mit der sogenannten Wirklichkeit eigene Subjektivitäten auszubilden?
Was würden die Besucher der Bar in Neukölln sagen, die plötzlich aufspringen, um auf blechigen Postpunk zu tanzen? Vermutlich nichts, ihr Verhalten ist ohnehin suspekt, eine Kopie der Vergangenheit, als hätte ihnen die Gegenwart nichts zu sagen. Dabei muss sie doch ständig neu erfunden werden. Nie ankommen, nie herumstehen, immer unterwegs sein.
Vorschlaghammer-Techno
So wie Charlie und Lina, die ihr mobiles Sound-„System Out“ im Urban Spree für ein geniales Line-up aufgebaut haben: Silvia Kastel, DJ Richard, Wilted Woman und Ondo Fudd. Charlie habe in London genug Geld verdient, um sich einen Sportwagen zu kaufen. Das hat er lieber in ein Soundsystem investiert, sagt, nein, schreit sie, um sich gegen die martialische Wall Of Sound durchzusetzen. Weil die Lautstärke selbst seichten House in Vorschlaghammer-Techno verwandelt, bleibt nur: Angriff oder Flucht.
Am frühen Morgen lügt ein blauer Himmel vor sich hin, in der Bahn die tauben Küsse eines Paares, das sich, der verzagten Frequenz ihrer Zuneigungsgesten nach zu urteilen, eben erst kennengelernt hat. So wie die Duos, die auf dem „Syn/Cussion Festival“ aufeinandertreffen.
Am Sonntag wird dort die Behauptung mit den neun Sekunden Aufmerksamkeit entkräftet. Im ausverkauften Radialsystem lauschen alle hoch konzentriert den Improvisationen des Free-Jazz-Drummers Paul Lovens und Thomas Lehn am analogen Synthesizer. Erst als Lovens sein bekanntes Gebiet verlässt und Lehns entrückt-clownesken Sound mit nervösem Schaben und Kratzen auf seinen Trommeln beantwortet, entsteht ein Dialog. Einer, der Widersprüche zulässt, statt sie einzuebnen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!