Kolumne American Pie: Nicht aus dem Nichts
Jeremy Lin war schon aussortiert. Plötzlich rockt der Aufbauspieler bei den New York Knicks die Liga. Wie viele Talente hat die wohl schon verschmäht?
W ie heißt der beste Basketballspieler der vergangenen Woche? Kobe Bryant? Lebron James? Dirk Nowitzki? Alles falsch. Richtig wäre gewesen: Jeremy Lin, Aufbauspieler bei den New York Knicks. In seinen fünf Spielen seit 4. Februar – alles Siege – explodierte der vorher vollkommen unbekannte Lin mit im Schnitt 27 Punkten, vier Rebounds, acht Assists und zwei Steals.
Wie ungewöhnlich das ist, zeigt ein Blick in die Geschichte: In den vergangenen 35 Jahren hat niemand in seinen ersten vier Spielen in der Startaufstellung eines NBA-Teams so viele Punkte gemacht wie Lin; nicht Jordan, nicht Bird, nicht Magic. Es ist ein unerhörter Vorgang.
Bisheriger Höhepunkt: das Spiel gegen Bryants Los Angeles Lakers am Freitag, als Lin mit 38 Punkten bei 56 Prozent Treffsicherheit den Superstar in den Schatten stellte. Derselbe Superstar, der den Hype am Tag zuvor noch leicht abwertend kommentierte: "Ich habe keine Ahnung, was der Scheiß soll. Wer ist der Junge?"
Hinterher äußerte sich Bryant positiver – und stellte zudem die gängige Storyline in Frage, die Geschichte vom Nobody, der völlig überraschend zu Weltruhm aufsteigt: "Solche Spieler kommen nicht aus dem Nichts." Aber woher kommen sie dann? Wer ist Jeremy Lin?
Der Erste mit chinesichen Wurzeln
Jeremy Lin, geboren 1988 in Kalifornien, ist kein typischer NBA-Spieler. Seine Eltern stammen aus Taiwan und wanderten in den 1970er Jahren nach Amerika aus. Amerikaner mit asiatischer Abstammung sind extrem selten in der NBA; Lin ist überhaupt der erste amerikanische NBA-Spieler mit chinesischem Wurzeln.
Das Problem war unter anderem der Rekrutierungsvorgang, der für jeden Spieler nur wenig Zeit vorsieht. Lin ist nicht wahnsinnig athletisch, er kann weder besonders hoch springen noch besonders schnell rennen. Lins Vorzüge kann man nicht in wenigen Sekunden sehen, seine Stärke ist die Spielübersicht, das Gefühl für die Situation, das Zusammenspiel mit der Mannschaft.
Schließlich landet er in Harvard, ohne Frage eine hervorragende Adresse für akademische Studien, aber im College-Basketball eher Hinterland. Der letzte Harvard-Spieler, der es in die NBA schaffte, war Ed Smith im Jahr 1953. In insgesamt 11 NBA-Spielen machte Ed Smith nur 28 Punkte.
Vier Jahre Harvard
Die vier Jahre Harvard brachten Lin unter anderem einen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften ein und eine hervorragende Plus-minus-Statistik von 8,3 Punkten – wenn Lin spielte, war sein Team im Mittel 8,3 Punkte besser als der Gegner.
Dann stand er vor der nächsten Hürde: der NBA-Draft, bei dem die Profiteams die Rechte an den besten Nachwuchsspielern erwerben, wieder ein Filter, der aus den Besten nochmal die Besten auswählen soll. Beim Draft werden Spieler wiederum vorwiegend nach athletischen Fähigkeiten beurteilt, nur selten dürfen sie ihre Fähigkeiten in echten Spielsituationen zeigen.
Lin fiel abermals durchs Raster. Eine Chance erhielt er dann doch noch, weil ihn Donnie Nelson nach Dallas einlud. Nelson, Manager bei den Mavericks, hat einen Sinn für ungewöhnliche Talente: er war schon 1998 am Ruder, als Dirk Nowitzki nach Dallas kam.
Im Sommer 2010 absoliverte Lin ein paar ordentliche Vorbereitungsspiele für die Mavericks, in denen er unter anderem den gerade an erster Stelle gedrafteten John Wall dominierte, und wurde daraufhin von den Golden State Warriors unter Vertrag genommen. Dort jedoch kam er kaum zum Einsatz, landete im Dezember 2011 kurz in Houston und dann bei den Knicks, die ihn umgehend an die "Development League" in der Provinz in Pennsylvania weiterreichten. Lin war auf dem Abstellgleis.
Eine Verzweiflungstat
Und dann nochmal ein Glücksfall: Die Knicks spielten unterirdisch schlecht. Zwischen 12. Januar und 3. Februar verloren sie 11 von 13 Spielen, zudem fehlten die Superstars Amare Stoudemire (Tod des Bruders) und Carmelo Anthony sowie der etatmäßige Aufbauspieler Baron Davis (beide verletzt). Dem kurz vor der Entlassung stehenden Knicks-Coach Mike D'Antoni blieb keine Wahl; aus schierer Verzweiflung ließ er Jeremy Lin von der Leine. Fünf Siege später, und die Verwunderung ist groß.
Noch wissen wir nicht, ob Lin nur ein sehr guter Basketballspieler ist oder wirklich das Zeug zum NBA-Superstar hat. Vielleicht bringt er schon im nächsten Spiel gegen Toronto nur 10 Punkte zu Stande. Aber Lin hat jetzt schon das Selbstverständnis der Liga auf den Kopf gestellt.
Welche potenziellen Superstars haben die Manager und Coaches noch links liegen lassen? Wie viele Zufälle und wie viele Vorurteile sind bei der Talentauswahl im Spiel? Der beste Basketballspieler der letzten Woche war womöglich ein anonymer Neuseeländer, der auf einem verlassenen Schulhof 100 Dreier in Folge traf.
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