Kolumbiens Vorzeigemetropole Medellín: Unter dem Deckmantel der Innovation
In Lateinamerika gilt Medellín als moderne Metropole – dank Investitionen wurde die Stadt der Gewalt befriedet. Das stimmt nur auf den ersten Blick.
Leise summt die Rolltreppe. Eine rundliche, kleine Frau fährt, begleitet von ihrem Hund, herunter in Richtung Cabeza del Reversadero. Das ist das eine Ende des Rolltreppensystems, das vor drei Jahren in der Comuna 13 in Medellín installiert wurde. „Das andere Ende heißt Viaducto del la Media Ladera und liegt rund hundert Meter weiter oben im Stadtviertel Las Independencias“, sagt Hernán Cano García. Seit dem 11. November 2014 arbeitet der junge Mann von 24 Jahren für das städtische Unternehmen, das Busbahnhöfe, Haltestellen und die Terminals für den Überlandverkehr betreibt.
„Aufpassen, erklären, erhalten“ – das ist der Job der insgesamt 14 pädagogischen Helfer, die für die sechs Rolltreppen, die Escaleras Electricas, zuständig sind. Sie wurden installiert, um den rund 12.000 Einwohnern von Las Independencias eine Alternative zu den 350 Treppenstufen zu bieten, die oben und unten verbinden. Doch viel ist nicht los an diesem Nachmittag unter der Woche. „Am Wochenende kommen die meisten Besucher, um die Comuna 13 zu besuchen, vor allem Touristen und Schaulustige“, erklärt Hernán Cano García etwas gelangweilt an einem Geländer lehnend.
Die kolumbianischen Schaulustigen kommen, weil die Comuna 13 als gefährlich gilt und weil hier vor rund vierzehn Jahren eine der größten Militäroperationen Kolumbiens stattfand: die Operación Orión. Damals drangen 1.500 Soldaten der IV. Brigade und Hunderte von Paramilitärs in das Gassenlabyrinth ein und durchkämmten es nach Milizen der Guerilla. Vier Tage dauerte die Aktion. Sie hat dem sich über zahlreiche Hügel erstreckenden Viertel, über das Waffen, Drogen, aber auch andere Güter geschmuggelt werden, eine trügerische Sicherheit beschert.
Nun kommen tagsüber sogar Touristen hoch in die Comuna 13, da die Seilbahnstation San Javier nur ein paar Steinwürfe von den schlagzeilenträchtigen Escaleras Electricas entfernt ist. Die Seilbahn, El Metrocable, sorgt dafür, dass die Stadtviertel am Rande des Talkessels von Medellín ans Zentrum der 2,5-Millionen-Einwohner-Metropole angebunden sind. „Das ist ein echter Fortschritt für die Menschen, denn es war vorher beschwerlich, nach unten ins Zentrum zu kommen“, so der britische Soziologe Peter Charles Brand.
Heute ist es einfach, denn die beiden Seilbahnlinien fungieren als Zubringer für die U-Bahn Medellíns, so Brand. Er beschäftigt sich an der öffentlichen Universität von Medellín mit der Stadtentwicklung von Kolumbiens modernster Metropole. Die hat lateinamerikaweit für Aufsehen gesorgt, denn Medellín steht für Innovation und neue alternative Verkehrskonzepte.
Für ein höheres Selbstwertgefühl
Die Seilbahn, seit 2004 im Einsatz, ist ein Element davon. Das kostengünstige, saubere und nur wenig Platz benötigende Verkehrsmittel ist überaus populär in Lateinamerika, und dem Beispiel Medellíns sind nicht nur Caracas und La Paz gefolgt. Längst ist El Metrocable Teil lokaler Identität, die Seilbahn hat für eine Aufwertung der betroffenen Stadtviertel und für ein deutlich höheres Selbstwertgefühl gesorgt, erklärt Brand. Er ist mit seinen Studenten regelmäßig in den Comunas unterwegs, untersucht die Effekte des Urbanismo social, dem sich die Stadtverwaltung verschrieben hat.
Soziale Stadtentwicklung in Medellín heißt, dass investiert wird – in die öffentliche Infrastruktur, in Parks, in Spazierwege. Auch Investitionen in Schulen und in Sozialprojekte gehören dazu, so argumentiert die Stadtverwaltung. Die hat in den vergangenen Jahren so manchen Innovationspreis erhalten, aber auch ein spektakuläres Geschenk: die drei schwarzen Würfel der Biblioteca española.
Die spanische Bibliothek thront über der Comuna 2, die einen ähnlich schlechten Leumund hat wie die Comuna 13. Auch hier sind die Leute stolz auf ihr neues Wahrzeichen, so Brand. „Aber Aufwertung allein reicht leider nicht“, kritisiert er. „Die Leute in den Armenvierteln brauchen mehr als ein paar Symbole, sie brauchen echte Sozialpolitik, echte Perspektiven und Sicherheit“, so der Stadtplaner.
Doch das hat Medellín nicht oder zumindest nicht ausreichend zu bieten. Die Vision von Sergio Fajardo Valderrama, 2004 gewählter unabhängiger Bürgermeister, ist nicht aufgegangen. Der Mathematiker wollte, dass Medellín zur Bildungsmetropole mit einem für Kolumbien ungewöhnlich hohen Maß an persönlicher Sicherheit wird. Zwar hat sich im Bildungssektor mit dem Netz von neuen Bibliotheken etwas getan, zudem wurden mehrere neue Museen unter seiner Regie angeschoben, doch bei der Sicherheit scheiden sich die Geister.
Weniger Tote – mehr Kriminalität
„In Medellín gibt es weniger Tote. Das ist richtig, aber das haben wir allein dem Pakt unter den Paramilitärs zu verdanken“, erklärt Luis Fernando Quijano Moreno. Er ist Vorsitzender der Menschenrechtsorganisation Corpades und sich sicher, dass die Oficina de Envigado und die Urabeños, beides paramilitärische Organisationen, große Teile der Stadt kontrollieren. „Wir gehen davon aus, dass sie siebzig Prozent der Stadtviertel beherrschen. Manchmal können sogar Schulkinder die Grenzen ihres Stadtviertels nicht passieren“, so Quijano Moreno.
Das Kassieren von Steuern und Schutzgeldern sei ohnehin normal. Taxifahrer zahlen genauso wie Busfahrer, Handwerker und Restaurantbesitzer eine Pauschale, um nicht behelligt oder eben beschützt zu werden. Mehr als 350 Banden mit schätzungsweise 13.500 Mitgliedern haben die Paramilitärs laut Corpades unter ihrer Regie. Die sind für die Kontrolle in den Stadtvierteln verantwortlich, kassieren die Abgaben und setzen durch, was die Comandantes der Paramilitärs anordnen. Quijano Moreno spricht aus, was viele in Medellín wissen, aber kaum jemand zu formulieren wagt.
Unter dem Deckmantel von Innovation und moderner Architektur hat sich an den Strukturen der Gewalt wenig bis gar nichts geändert. Das sieht nicht nur Quijano Moreno so, sondern auch der Anwalt Bayron Góngora, der für die Menschenrechtskanzlei Corporación Jurídica Libertad arbeitet und zahlreichen Fällen von gewaltsamem Verschwindenlassen nachgeht. „Medellín ist eine der kolumbianischen Städte mit der höchsten Quote an Verschwundenen, allein in der Müllkippe La Escombrera vermuten wir Hunderte von Verschwundenen“, so Góngora.
Die stammen aus der Zeit nach den Jahren der Militäroperationen in der Comuna 13, und laut Experten wie Quijano Moreno sind Paramilitärs und Kartelle Meister im Verschwindenlassen von Leichen. Zerstückeln, Auflösen in Säure, das Verbrennen in illegalen Krematorien und das Verscharren auf Müllkippen sind beliebte und bewährte Strategien. „Die haben wir auch nach Mexiko exportiert. Medellín ist so etwas wie das Labor der Kriminalität Kolumbiens – darüber liegt heute nur das Fähnchen der städtebaulichen Erneuerung“, erklärt Quijano Moreno mit einem schiefen Lachen.
An den Bedürfnissen der Bevölkerung vorbei
Das bestreitet auch Lucía González nicht, eine der absoluten Expertinnen der jüngeren Geschichte Medellíns und Leiterin des Museums „Haus der Erinnerung“. Das wird von der Stadtverwaltung betrieben, und die Weichen für den Bau wurden noch unter Bürgermeister Fajardo gestellt. Das moderne Gebäude steht für das andere Gesicht Medellins: das innovative, das die sozialen Realitäten und die blutige Vergangenheit Medellíns und dessen sichtbare Folgen ernst nimmt.
„In der Stadtverwaltung gibt es viele engagierte Leute, aber auch eine Fraktion, die vor allem auf die bauliche Neugestaltung setzt“, so González. Die gibt derzeit den Ton an, wie das Megaprojekt „Parques del Río de Medellín“ zeigt, das die Stadtautobahn unter die Erde verlegen will, und die Ufer des derzeit noch stinkenden Río Aburra sollen zum Naherholungsgebiet der Stadt werden.
Doch davon hält Stadtplaner Peter Charles Brand wenig. Das Projekt geht genauso wie die elektrischen Rolltreppen an den Bedürfnissen der Bevölkerungsmehrheit vorbei. „Die will Sicherheit und Perspektive und erhält die Fassade einer modernen Stadt, unter deren Oberfläche der Krieg weitergeht“, kritisiert der Architekt und folgt mit dem Blick einem grünen Betonmischer. Der nimmt den Weg ins Zentrum der Stadt, vielleicht zu den Parques del Río Medellín.
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