Körperdysmorphe Störung: Der Makel in seinem Kopf
Stephan hatte nie Probleme mit seinen Lipomen, den kleinen Fettgeschwulsten. Doch eine flapsige Bemerkung änderte alles. Sein Leben löst sich auf.
BAD BRAMSTEDT taz | Wahrscheinlich war das der Anfang von dem, was sein Leben trennte in ein Davor und Danach. Drei Jahre ist das her. Er war beim Krafttraining in seiner Kaserne im Norddeutschen. Beim Bankdrücken schaut ein Kamerad hinüber. Auf seine Arme. „Was ist das?“ Der Kamerad lacht. „Beulenpest oder was?“ Ein Spaß unter Kollegen. Doch der Zweifel an sich und seinem Äußeren war für Stephan in der Welt. Noch nicht stark. Aber er war jetzt da.
Lipome hatte er schon ein paar Jahre. An Armen, Beinen und Rücken. Gutartige Fettgeschwulste unter der Haut. Kleine, rundliche Erhebungen, kaum sichtbar. Sein Vater und sein Bruder hatten sie auch. Und hatten keine Probleme damit. Stephan auch nicht. Keiner hatte ihn bis dahin je darauf angesprochen.
Anfang Februar 2013 tritt Stephan, Zeitsoldat bei der Bundeswehr, einen Auslandseinsatz auf einem kleinen Marineschiff an. Irgendwo im Mittelmeer. Siebzig Männer an Bord. Wenig Ablenkung. Viel Sport. Hohe Konzentration auf das Körperliche. Der Zweifel meldet sich zurück. Stephan betrachtet sich nun ausgiebiger im Spiegel. Sein Blick fokussiert sich. Lipome. Beulenpest. Die Mails an die Mutter, zu der er schon immer ein inniges Verhältnis hat, verdüstern sich. Anfangs noch handeln sie zumeist vom Schiffsalltag.
Schon im März sagen sie immer häufiger: „Ich bin nicht normal.“ Etwas stimmt nicht. Etwas hat sich in seinem Kopf eingenistet. Die kleinen Lipome werden für ihn groß. Zweifel an seinem Äußeren entwickeln sich zu Scham. Er trägt nun keine T-Shirts mehr, trotz der Hitze. Selbst beim Sport nicht. Die Beulen an seinen Armen will er keinen Blicken mehr aussetzen.
Zeit schinden, um sich im Spiegel zu betrachten
An Bord arbeitet er als Anlagenbediener. Die Arbeit zu erledigen wird immer schwieriger für ihn. Er täuscht eine Magen-Darm-Grippe vor. Derentwegen er ständig auf die Toilette müsse. Um Zeit zu schinden, sich im Spiegel zu betrachten. Ob alte Lipome verschwunden sind. Oder neue hinzukamen. Von da an nimmt es seinen Lauf.
Seit zwei Monaten ist Stephan nun hier, in der Schön-Klinik für psychosomatische Erkrankungen in Bad Bramstedt, rund 40 Kilometer nördlich von Hamburg. Der gewaltige Komplex aus Backstein liegt direkt am Wald, etwas außerhalb. Für Menschen wie Stephan ist die Klinik die eine der wenigen Anlaufstellen in Deutschland. Seine Krankheit heißt: körperdysmorphe Störung. Menschen, die manisch einen Makel an ihrem Körper in den Mittelpunkt ihres Lebens stellen. In Bad Bramstedt beschäftigt sich damit Christian Stierle. Als leitender Psychologe behandelt er auch Stephan.
„Es ist ähnlich wie bei einem Fleck auf dem Hemd“, erklärt Stierle in seinem kleinen Büro, „man starrt nur noch auf den Fleck und nimmt nichts anderes mehr richtig wahr.“ Meist beginne es wie bei Stephan recht harmlos. Ein Zweifel am eigenen Aussehen, den fast jeder manchmal hat. Dann aber werde das Äußere überdurchschnittlich wichtig. Es gehe immer mehr darum, sich zu vergleichen, zu kontrollieren. Was meist damit endet, sich selbst zu verachten.
„Besonders schlimm an dieser Erkrankung ist auch“, sagt Stierle, „dass diese Menschen einen Makel an sich sehen, den Dritte praktisch nicht wahrnehmen.“ Sodass man oft innerlich vereinsame.
Auch Stephan sieht es so. „Ich hatte oft das Gefühl, dass mich eine unsichtbare Wand trennt von den anderen.“ Kurze Pause. „Weil es doch niemand verstehen kann.“ Stephan sitzt in Stierles Büro. Er ist 28 Jahre alt, knapp 1,80 Meter groß, die dunkelblonden Haare modisch, schlank, trainierte Arme.
Er tastet sich ab. Überall. Stundenlang.
Sein Körper ist ihm heilig. Früher war er immer der Kleinste, der Schmächtigste. Der, der im Sport immer als Letzter ausgewählt wurde. Als er dann mit 18 zur Bundeswehr geht, beginnt er, seinen Körper zu stählen. In seiner Freizeit leidenschaftlich Kanu zu fahren. Und bekommt Anerkennung.
An Bord wundern sich die Kameraden, warum Stephan jeden Tag wie besessen auf den Boxsack im Sportraum einschlägt. Für ihn ist es die einzige Möglichkeit, seine Wut auf sich und die Lipome zu kanalisieren. Bald aber fehlt ihm die Kraft dafür. Er kennt nun jeden Quadratmillimeter seiner Haut. Tastet sich ab. Überall. Die Prozeduren dauern manchmal länger als eine Stunde. Ist er damit fertig, ist er leer. Tief traurig. Unfähig, sich noch auf etwas anderes zu konzentrieren.
Nachts liegt er trotzdem wach. Fragt sich: „Wann hört das endlich auf?“ Nach vier Monaten an Bord bittet er den Stabsarzt, ihn wegen psychischer Probleme vom Einsatz zu befreien. Die psychiatrische Fachabteilung der Bundeswehr in Hamburg ist einverstanden. Stephan geht von Bord. Hat nun aber einen Eintrag in seiner Akte. „Meine Bundeswehrkarriere wird damit nach den 12 Jahren als Zeitsoldat beendet sein.“
Viele Patienten, die er bisher behandelt habe, erzählt Christian Stierle, seien über kurz oder lang nicht mehr fähig, ihre Arbeit oder ihren Alltag zu bewältigen. Im Verlauf der Krankheit komme es zunehmend zu sogenannten Vermeidungsstrategien. Isolation aus Selbstschutz. Weil der Gang zur Arbeit, in die Stadt oder überhaupt unter Menschen zur Qual wird. Und viele kaum an irgendeinem Schaufenster vorbeikämen, ohne sich zu spiegeln. Und dann Angst hätten, sich sehen zu müssen.
Betroffen von körperdysmorpher Störung sind Frauen und Männer nahezu gleichermaßen. Der Ausbruch der Krankheit hängt nicht vom Alter ab, auch wenn man meist in der Pubertät eine Anfälligkeit dafür entwickelt. „Aber viele Patienten haben Schwierigkeiten, es in die Therapie zu schaffen“, sagt Christian Stierle, die Hemmschwelle sei enorm. Die Dunkelziffer liege hoch.
Was nicht allein, aber auch an dem gesellschaftlichen Druck liege, schön sein zu müssen. Dem erliegen manche stärker als andere. Vor allem, wenn man einen gesteigerten Sinn für Schönheit und Symmetrie habe.
Manche leiden an ihren Ohren, andere an ihrer Haut
Manche Betroffene leiden an ihren Ohren, manche wie Stephan an Unregelmäßigkeiten ihrer Haut, andere an der Nase, den Zähnen oder zu vollen Lippen. Und weil bei manchen die Scham so weit geht, dass sie sich nicht zum Schönheitschirurgen trauen, legen sie selbst Hand an.
Schneiden sich in die Lippen, damit Blut abfließt und sie schmaler werden, kleben Ohren an mit Sekundenkleber, brechen sich die Nase, um sie geradezurücken. Am Ende, sagt Stierle, wenn nichts mehr zu helfen scheint, denkt etwa ein Drittel an Suizid. So weit ist es bei Stephan noch nicht. Dennoch löst sich sein altes Leben auf.
Die Familie erkennt ihn nicht wieder. Schon die Umarmung der Mutter wird für ihn zur Qual. Wenn sie ihm über den Rücken streicht, fühlt er sich ausgeliefert. Beulenpest. Wer will so jemanden berühren? Er windet sich heraus, verlässt selten das Haus. Sein Kanu bleibt unberührt. Mit seiner Freundin geht es auseinander. Zu oft sind die Lipome Thema.
Der Bruder fragt, ob er jetzt völlig durchgedreht sei
Einmal wollen sie in den Zoo. Er müsse noch schnell duschen, bevor sie losgehen. Wieder einmal braucht er lange. Benötigt eine ganze Flasche Duschgel, weil er immer und immer wieder über seinen Körper fahren muss. Wieder einmal ist er deprimiert danach. Den Ausflug sagt er ab. Intimitäten hält er kaum noch aus.
Als er seinen Bruder, Rettungsassistent bei der Bundeswehr, fragt, ob er ihm Lipome entfernen könne, fragt der, ob er jetzt völlig durchgedreht sei. Kurz bevor er mit dem Skalpell selbst Hand anlegt, erfährt er von einer Klinik in Bad Bramstedt. Es ist wie eine Erlösung. Dort geht es seither darum, die Dinge richtig einzuordnen. „Das Äußere wertfrei zu beschreiben und es auszuhalten ist deswegen wesentlicher Bestandteil unserer Therapie“, erklärt Christian Stierle.
Sich auszuhalten war für Stephan fast unmöglich, als er ankam in der Klinik. In einer Therapiestunde wurde er gefilmt. Ohne Pullover, im T-Shirt. Tags darauf musste er das Video mit dem Betreuer zusammen anschauen. „Es war der Horror“, erinnert er sich, „ich musste ständig auf Pause drücken.“ Seitdem ist das Video jede Woche mit dabei. Mittlerweile drückt er nicht mehr auf Pause. Dass die Lipome keine Krankheit sind an seinem Körper, sondern nur in seinem Kopf, sei ihm hier klar geworden.
Früher dachte er: „Lieber hätte ich nur ein Bein als diese beschissenen Lipome.“ Jetzt sagt er sich öfter: „Was machst du dir für eine Hölle deswegen? War doch verrückt.“ In der Sporthalle nebenan trainiert er wieder im T-Shirt. 10 Wochen jeden Tag Behandlung von 8 bis 18 Uhr mit Gesprächen, Nachdenken liegen hinter ihm. „Da komm ich natürlich schon mit großen Erwartungen raus“, sagt er und lächelt, „aber ich hab schon auch Schiss.“
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