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Körper und Krise

■ Bruno Dumonts realistisches Provinzdrama „La vie de Jésus“ im 3001

Ziemlich rasant wirkt das auf den ersten Blick, wenn Freddy und seine Freunde auf ihren Motorrädern über die Provinzstraße brettern. Bis sich die Motorräder als getunte Mopeds entpuppen, und der Geschwindigkeitsrausch einer sprachlosen Verzweiflung weicht. Nur noch als röhrendes Echo einer längst unglaubwürdigen Bewegungsillusion hallt der Sound der Zweitakter dann – Bruno Dumonts mit Laien gedrehtes Debüt immer wieder akustisch rhythmisierend – ihrem hohlen Versprechen nach.

Freddy und seine Freunde leben in Bailleul, einem französischen Provinzkaff, das in all seiner Tristesse genauso in Ostdeutschland liegen könnte. Bailleul ist home of the Bomberjacke und Jugendarbeitslosigkeit; einen gepflegten Top-schnitt weiß man dort ebenso rüde zuzubereiten wie einen rassistischen Gag. Dafür hat man in Bailleul viel Zeit, vor allem wenn man jung, unsympathisch und nahezu Analphabet ist. Ab und zu marschieren Freddy und seine Freunde mit einer Blaskapelle durchs Dorf, und man schwankt, ob sie einem letzten Außenposten der Zivilisation gleicht – oder dem Fanfarenzug, der zu ihrem Niedergang anbläst.

Freddy ist Epileptiker, seinen Kumpels hat er aber eins voraus: Er hat eine feste Freundin, Marie, Kassiererin im örtlichen Supermarkt. Sie ficken gerne – und viel. Ob es zwischen ihnen mehr als Körperliches gibt, erfahren wir nicht. Worte können es jedenfalls kaum sein. Eher: pubertäre Neugier, Langeweile und die unfreiwillige Nähe jener, denen, von ihrem Körper abgesehen, nichts gelassen wurde. Und so wie diese Rationalisierungsverlierer ihr Leben als Abfolge körperlicher Zustände erleben, erzählt es Dumont auch von den Körpern seiner männlichen Protagonisten her. Der Fokus auf die Krise männlicher Körper rückt La vie de Jésus in die Nähe von American History X, nur dass Dumont, anders als Tony Kaye, ihnen eben nicht auf den Leim geht. Einer dieser Körperzustände ist der Tod, der schon bald ein erstes Opfer fordert: ein Aidstoter, der Bruder eines Mofa-Rockers. Freddy rätselt – auch er ein Homo „wie die im Fernsehen“? Sonntags geht es zum Baden nach Dünkirchen, gelegentlich veranstaltet man ein Autorennen oder rasiert sich eine Glatze. Und dennoch gärt es.

Bis irgendwann ein ganz anderer Körper in ihr Leben tritt, vor allem in Freddys. Dann bricht sich die angestaute Energie Bahn. Der fremde Körper gehört Kader, einem jener Araber, die unter den ständigen Schikanen der Jungs zu leiden haben. Als Kader mit Marie anbändelt, sehen Freddy und seine Freunde rot. Am nächsten Tag ist er tot. Zu erklären ist da wenig, auch für Dumont nicht. Gerade der lakonische Verzicht auf Tiefe und Erlösung aber macht La vie de Jésus zu einer der besseren Studien der Auflösung gesellschaftlicher Verhältnisse. Tobias Nagl

bis 10. November, tägl. außer Mo, 20.30 Uhr, 3001

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