Koblenzer Prozess zu Folter in Syrien: Caesars Geheimnis
Ein Mann musste Tausende Leichen fotografieren. Ihm gelang es zu fliehen und die Bilder außer Landes zu bringen. Nun sind sie Beweismittel.
U m kurz vor zwölf am Dienstagvormittag ruft Markus Rothschild in seiner Power-Point-Präsentation den nächsten Abschnitt auf. Ein neues Bild wird oberhalb der Richterbank an die Wand projiziert. Es zeigt die Leiche eines Mannes, der verhungert ist. Sein nackter Körper ist ausgezehrt, das Skelett tritt deutlich hervor.
Es folgen zwei ähnliche Bilder, dann klickt Rothschild weiter zur nächsten Todesursache: dem Ersticken. Jetzt zeigt er einen Mann, bekleidet nur mit einer Unterhose, dessen Hals sich lila verfärbt hat, auch der oberere Brustkorb ist blutunterlaufen. „Da könnte jemand draufgetreten oder -gesprungen sein“, sagt Rothschild.
Seit kurz vor zehn Uhr an diesem Dienstagmorgen sagt der Leiter des Instituts für Rechtsmedizin an der Universität Köln als Sachverständiger in Saal 128 des Koblenzer Oberlandesgerichtes aus. Seitdem hat er Tabellen, Statistiken und viele Bilder an die Wand geworfen. Es geht um Todeszeichen und Ernährungszustand, um Verletzungen, Fesselungen und Belege für Folter. Auf den Fotos ist mal ein ganzer Körper zu sehen, mal nur sind es Teilaufnahmen von Oberkörper, Gesicht oder Beinen. Manche der Leichen sehen unauffällig aus, manche ausgehungert, andere sind voller Striemen, Blutflecken und Verletzungen. Die Toten sind mit Nummern markiert, oft direkt auf die Haut geschrieben.
Die Bilder, die der Rechtsmediziner Markus Rothschild zeigt, sind eine Auswahl der sogenannten Caesar-Files. Es sind Bilder, die ein ehemaliger syrischer Militärfotograf mit dem Decknamen „Caesar“ bei seiner Arbeit für Assads Regime heimlich kopiert hat und die später außer Landes geschmuggelt wurden. Insgesamt über 53.200 Fotos. 28.707 von ihnen zeigen die Leichen von Menschen, die in Gefängnissen der syrischen Geheimdienste gestorben sind, es sind Fotos von 6.787 Personen. Rothschild und seine Kollegin haben die Bilder forensisch untersucht, beauftragt hat sie die Bundesanwaltschaft.
Jetzt erklärt der Rechtsmediziner dem Gericht, welche Verletzungen auf den Fotos zu sehen sind, wie häufig sie im Datensatz vorkommen und was sie verursacht haben könnte. Rothschild betont, dass ihre einzige Quelle die Bilder seien, vieles also für sie nicht sichtbar sei. Und doch wird in seiner Präsentation klar: Er sieht in den Fotos klare Belege für Foltermethoden, von denen zahlreiche Überlebende in dem Koblenzer Prozess bereits berichtet haben.
Der Prozess gegen Anwar R.
Die Casar-Files werden in diesen Tagen in Koblenz erstmals als Beweise in ein Strafverfahren eingeführt. Seit April stehen dort zwei Syrer wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht. Der Hauptangeklagte Anwar R., 57, hat bei dem syrischen Allgemeinen Geheimdienst gearbeitet und in der Abteilung 251 die Unterabteilung „Ermittlungen“ geleitet. Dazu gehört „al-Khatib“, ein berüchtigtes Gefängnis im Zentrum von Damaskus. Dort sollen, so heißt es in der Anklage, allein von April 2011 bis September 2012 systematisch Tausende Menschen gefoltert worden sein, manche seien an den Folgen gestorben.
Anwar R. soll dafür verantwortlich sein. Deshalb hat ihn die Bundesanwaltschaft wegen 58-fachen Mordes und Folter in mindestens 4.000 Fällen, wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung angeklagt. Der Prozess ist eine internationale Premiere: Mit Anwar R. und seinem Mitangeklagten müssen sich erstmals weltweit zwei mutmaßliche Folterknechte des Regimes von Baschar al-Assad vor Gericht verantworten. Nach dem Weltrechtsprinzip kann die deutsche Justiz Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch dann verfolgen, wenn weder Täter noch Opfer Deutsche sind.
Während Rothschild die Bilder erklärt, sitzt Anwar R. hinter ihm, auf der rechten Seite des Saals, wie alle Prozessteilnehmer hinter Plexiglas, das vor Corona schützen soll. Der Mann mit dem auffälligen Muttermal unter dem linken Auge schaut starr auf die Bilder an der Wand. Was in ihm vorgeht, ist ihm nicht anzusehen.
Die Zeugin, die „Caesar“ ausfindig machte
Seit der vergangenen Woche beschäftigt sich das Gericht mit den „Caesar-Files“. Zunächst hatte die französische Journalistin Garance Le Caisne dazu ausgesagt. Le Caisne, 54, eine kleine Frau mit dunklen Locken, ist Expertin für den Nahen Osten. Sie hat lange in Ägypten gelebt, war mehrfach in Syrien, auch nach Beginn des Bürgerkriegs. Nachdem die „Caesar“-Fotos im Frühjahr 2014 erstmals öffentlich vorgestellt wurden, habe sie im Herbst dieses Jahres damit begonnen, nach dem ominösen „Caesar“ zu suchen, sagt sie vor Gericht. „Caesar“ lebt seit seiner Flucht aus Syrien aus Angst um sein Leben und das seiner Familie versteckt, inzwischen irgendwo in Nordeuropa.
Le Caisne wollte seine Geschichte und die seiner Bilder erzählen, vor allem aber von den Verbrechen berichten, die in syrischen Gefängnissen begangen werden. Monatelang versuchte sie, über Mittelsmänner an „Caesar“ heranzukommen. Im März 2015 hatte sie Erfolg: „Caesar“ erklärte sich bereit, sie zu treffen – und berichtete ihr in mehr als 40 Stunden dauernden Gesprächen als einziger JournalistIn seine Geschichte. Inzwischen ist ihr Buch darüber erschienen, seit 2016 auf Deutsch unter dem Titel „Codename Caesar“ erhältlich. Von ihren Treffen mit „Caesar“ und den Gesprächen mit Überlebenden soll sie in Koblenz berichten. Der ehemalige Militärfotograf selbst wird nicht aussagen.
Garance Le Caisne, Journalistin, über „Caesar“
Schnell sei ihr klar gewesen, sagt Le Caisne, dass es nicht nur um „Caesar“ gehe. „Man spricht die ganze Zeit von einer Person, aber eigentlich sind es zwei“, sagt sie. Le Caisne spricht Französisch, ruhig und sachlich trägt sie vor, die Dolmetscherin, die neben ihr sitzt, übersetzt.
„Caesar“ habe vor Beginn der Proteste gegen das Regime im März 2011 bereits als Militärfotograf gearbeitet, sagt sie. Seine Aufgabe sei es gewesen, Tatorte zu fotografieren, an denen Soldaten ums Leben gekommen sind, auch durch Verkehrsunfälle oder Suizide. „Er mochte seinen Beruf.“ Mit dem Beginn der Revolution habe sich das geändert.
Jetzt musste „Caesar“, so Le Caisnes Aussage, vor allem die Leichen von Gefangenen fotografieren, die in den Haftanstalten der Geheimdienste gestorben waren. Als Todesursache hätten die Rechtsmediziner meist Herzstillstand oder Atemnot angegeben, doch das habe mit den Verletzungen der Toten nicht übereingestimmt. „Einige der Leichen hatten keine Augen mehr, einige hatten die Haut verletzt, einige hatten rote Male am Hals, einigen konnte man ansehen, dass sie verhungert waren“, sagt Le Caisne. „Caesar“ sei geschockt gewesen, habe erwogen zu desertieren und mit einem Freund darüber gesprochen. Der Freund, ein Bauingenieur mit dem Decknamen „Sami“ und Kontakten zur syrischen Nationalbewegung, habe ihn bewegt zu bleiben und die Bilder zu kopieren. „Ich denke, Sami war klar, dass die Fotos irgendwann wichtige Beweisstücke sein könnten“, sagt Le Caisne. Die beiden Männer hätten ja damals geglaubt, dass das syrische Regime in wenigen Monaten stürzen würde.
Drei bis vier Fotos pro Leiche
Zwei Jahre lang, von Mai 2011 bis August 2013, kopierte „Caesar“ heimlich Fotos auf einen USB-Stick, den er versteckt im Gürtel oder im Schuhabsatz aus dem Büro herausschmuggelte. Den Stick brachte er zu „Sami“, der die Fotos zu Hause ungeordnet auf seinen Rechner kopierte und die Dateien auf dem Stick löschte. Damit zog „Caesar“ dann wieder los.
Drei bis vier Fotos hätten „Caesar“ und seine sieben Kollegen von jeder Leiche machen müssen – Aufnahmen vom Gesicht, der Brust, dem ganzen Körper. „Die Arbeit wurde immer mehr, es gab immer mehr Leichen“, sagt Le Caisne. Anfangs habe „Caesar“ täglich nur wenige Bilder gemacht, am Ende habe er jeden Tagen bis zu 50 Leichen fotografiert. Zunächst musste er dazu in den Leichenraum des Militärkrankenhauses Tischrin im Norden von Damaskus kommen. Doch bald sei der Platz dort zu knapp geworden, die Toten hätten auf den Gängen gelegen. Dann sei man in das deutlich größere Militärkrankenhaus Mezee ausgewichen. Dort hätten die Leichen auch draußen auf dem Gelände gelegen, zum Teil in einer Garage. Schon von draußen habe man die Toten gerochen.
Nach dem Fotografieren hätten „Caesar“ und seine Kollegen in ihrem Büro Formulare ausfüllen und Akten anlegen müssen. „Zunächst ein Formular pro Leiche“, sagt Le Caisne. Später habe es ein Formular für mehrere Tote gegeben. Ihre Bilder hefteten die Fotografen einfach hinten dran.
Aber warum dokumentiert ein Regime akribisch die eigenen Verbrechen? Es könne aus der Routine heraus geschehen sein, vermutet Le Caisne. Das Regime Assad erfasse und archiviere überhaupt sehr viel. Zudem, auch das ein möglicher Grund, belegten die Fotos für die Untergebenen, dass sie die Anweisungen von oben befolgt hatten.
Die Gespräche mit „Caesar“, berichtet die Journalistin, seien anfangs nicht leicht gewesen. Beide Seiten waren ängstlich. „Ich habe versucht, ihn einfach reden zu lassen, aber das wollte er nicht. Dann habe ich gefragt, und er hatte das Gefühl, es ist ein Verhör.“ Manchmal habe „Caesar“ Zeichnungen gemacht, um etwas zu verdeutlichen. Überlassen hat er ihr diese nicht. „Er wollte nicht, dass ich Papiere mit seiner Handschrift habe.“
Anfangs, sagt Le Caisne, hätten laut „Caesars“ Bericht die Leichen noch Namen getragen, bald aber nur noch zwei Nummern, die entweder mit Filzstift direkt auf die Leichen geschrieben wurden oder auf Klebeband, das auf der Stirn befestigt war. Die erste steht für den Gefangenen, die zweite für die Geheimdienstabteilung, in der er inhaftiert war. Der Rechtsmediziner gab den Leichen eine dritte Nummer für seinen Bericht. Dabei fing er bei 1 an und hörte bei 5.000 auf, dann begann er wieder von vorne und hängte an die Zahl einfach einen Buchstaben an, bis er wieder bei 5.000 war. Dann kam der nächste Buchstabe.
„Für Caesar und Sami ging es darum, der Welt diese Fotos zu zeigen“, sagt Le Caisne. Sie hätten aber auch die Familien darüber informieren wollen, was mit ihren Angehörigen geschehen ist. Viele Menschen seien einfach verschwunden, „diese Haftanstalten sind ein schwarzes Loch“.
Die Flucht aus Syrien
„Caesar“ habe sich mit der Zeit immer unwohler gefühlt. Er habe heimlich gegen das Regime gearbeitet, aber für die Opposition sei er ein Mann des Regimes gewesen. „Er war zwischen beiden eingekeilt“, sagt Le Caisne. „Caesar“ habe befürchtet, dass das Regime ihn erwische und er wie die Menschen auf den Fotos ende. Aber auch, dass die Opposition ihn erwischen könnte, weil er als Teil der Regimes galt.
Im Sommer 2013 verließen „Sami“ und „Caesar“ Syrien, die Festplatte mit den Bildern wurde von einer dritten Person außer Landes geschmuggelt. Schon 2012 hatte „Sami“ damit begonnen, die Fotos – in komprimierter Form – in einer Cloud hochzuladen. In der Türkei begannen „Sami“ und zwei Mitstreiter, ein Informatiker und ein Arzt, die in den Berichten ebenfalls Decknamen tragen, Bilder zu katalogisieren.
Urteil der Expertengruppe unter Leitung des ehemaligen Chefanklägers im Kriegsverbrechertribunal für Sierra Leone über die „Caesar-Files“
Mithilfe der Syrischen Nationalbewegung gelang es, das Emirat Katar zur Finanzierung einer ersten Überprüfung der Authentizität der Bilder zu gewinnen. Im Auftrag Katars setzte eine Londoner Anwaltskanzlei dazu eine Expertengruppe unter der Leitung des Briten Desmond de Silva ein, des ehemaligen Chefanklägers im Kriegsverbrechertribunal für Sierra Leone. Der Bericht der Kommission wurde Anfang 2014 vorgestellt, die deutsche Übersetzung am vergangenen Mittwoch in Koblenz in Saal 128 verlesen. Die Kommission, die „Caesar“ aus Sorge um sein Leben seinen Decknamen gab, hält diesen für glaubwürdig, die Fotos für authentisch. Sie seien „eindeutige Beweise für systematische Folter und Tötungen von Inhaftierten durch das syrische Regime“. Längst haben auch Untersuchungen des US-amerikanischen FBI und von Human Rights Watch die Fotos als echt eingestuft.
Auch das Bundeskriminalamt hat keine Zweifel an ihrer Authentizität. Der BKA-Beamte, der die Ermittlungen geleitet und den Mann mit dem Decknamen „Sami“ in Berlin vernommen hat, erklärte am vergangenen Donnerstag dem Gericht, wie die „Caesar-Files“ aufgebaut sind. Erhalten hat das BKA den Datensatz im Februar 2016 von der Liechtensteiner Justiz: zwei Festplatten mit insgesamt 97.693 Dateien darauf, über 30 Gigabyte. Ein Mitglied der Syrischen Nationalbewegung hatte die „Caesar-Files“ zur Sicherheit in das Fürstentum geschickt, aus „Neutralitätsgründen“, wie es der BKA-Beamte nennt. Seine Behörde habe Liechtenstein um Rechtshilfe gebeten.
Die Dateiordner auf den beiden Festplatten seien nach Geheimdienstabteilungen sortiert gewesen. In Dateiordner 251, benannt nach der Abteilung des Hauptangeklagten Anwar R., finden sich 446 Aufnahmen von 99 Personen. „Das sind 1,49 Prozent der Gesamtaufnahmen“, so der Ermittler. Wie viele Dateien davon den Jahren 2011 und 2012 zuordenbar seien, will die Vorsitzende Richterin wissen. Das war der Zeitraum, in der der angeklagte Anwar R. für das Al-Khatib-Gefängnis verantwortlich war. Aus 2011 keine, antwortet der Beamte. Von Mai 2012 gebe es mehrere Dateien zu einer Person. Dieser Mann, sagt Rechtsmediziner Rothschild am Dienstag, sei wahrscheinlich an seinen Schussverletzungen gestorben. Der Körperzustand sei unauffällig, Folterspuren gebe es nicht.
Dass es diesen einen Fotosatz aus al-Khatib gibt, heißt aber nicht, dass es in dieser Zeit dort nur einen Toten gab. Zum einen schmuggelten „Caesar“ und „Sami“ nur einen Teil der gemachten Fotografien aus Syrien hinaus. Zudem gebe es bei Damaskus noch ein drittes Militärkrankenhaus, sagt der BKA-Mann. Laut Ermittlungen wurden die Toten aus al-Khatib ins Militärkrankenhaus Harasta gebracht. „Davon gibt es beim BKA aber keine Bilder.“
Der Prozess gegen den mutmaßlichen syrischen Folterer Anwar R. und seinen Mitangeklagten wird am Mittwoch fortgesetzt.
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