Kneipp-Land im Allgäu: Sehnsucht nach Ursprünglichem

Kneippkuren sind mehr als nur das berüchtigte Wassertreten. In Bad Wörishofen im Allgäu hat ein Priester die Wassertherapien berühmt gemacht.

In Lederhose oder mit angehobenen Rock machen Kurgäste ihre Runden in einem Wasserbecken

Immer im Kreis herum: Kurgäste beim Wassertreten in Bad Wörishofen 1935 Foto: akg-images/picture alliance

Er ist überall, niemand entkommt dem Mann hier. In den Fußgängerzonen, über leuchtenden Beeten voll von Narzissen, Tulpen und Hyazinthen ist der Pfarrer und Naturheilkundler Sebastian Kneipp auf Plakaten zu sehen und blickt zerknittert sinnsuchend in die Ferne. Im Kurpark stehen Tafeln mit seinen Kalendersprüchen; Straßen, Bäckereien, Apotheken, ein Museum tragen seinen Namen. Der Kurort Bad Wörishofen im Allgäu, wo Sebastian Kneipp im 19. Jahrhundert wirkte, ist bis heute Kneippland.

Und heute Rentnerland. Paare mit schlohweißem Haar schlendern durch die Gassen, manche ziehen im Alter gleich ganz hierher. Um nahe zu sein an einer Naturheilkunde, die nach 150 Jahren wieder voll im Zeitgeist liegt. Und doch zu kämpfen hat.

Auf die Frage, zu wie viel Prozent Bad Wörishofen von Kneipptourismus abhängig sei, sagt Joachim Bohmhammel nach kurzem Überlegen: „Zu 90 Prozent. Dieser Ort wurde für Gesundheit konzipiert.“ Bohmhammel ist Leiter der Therapie im Sebastianeum, einer Einrichtung, die der alte Kneipp selbst gründete. Schwerpunktmäßig behandelt sie mittlerweile orthopädische, psychosomatische und Stoffwechselerkrankungen.

Ab morgens um sieben Uhr sitzen die Gäste vor Kabinen und warten recht entspannt auf ihre Kneippbehandlungen. Auf Wechselschenkelgüsse, Waschungen oder Wickel. Die Lehre Kneipps ist umfassend, weit mehr als das berüchtigte Wassertreten. Es geht um Heilkräuter und Bewegung, um Wärme- und Kältereize, um die eigene Wiederholung, wenn man wieder daheim ist.

Ein ganzheitliches Verfahren, kein Wellness. 400 bis 500 Behandlungen führt das Sebastianeum nach eigenen Angaben täglich durch, an rund 140 Gästen. „Man merkt, die Leute wollen wieder zu alten Verfahren zurück, ohne Chemie einzunehmen“, sagt Bohmhammel. „Kneipp ist authentisch.“

Eine dünne Studienlage

Tatsächlich erinnert der Zeitgeist ein wenig an die Lebenszeiten des alten Kneipp. Heute gibt es Kneipp-Kitas und Kneipp-Grundschulen, befeuert von einer allgemeinen Sehnsucht nach Natürlichkeit, Gesundheit und Rückkehr zum Ursprünglichen. Dass Kneippkuren tatsächlich positiv wirken, ist recht unstreitig, etwa auf den Blutdruck und das Schmerzempfinden. Die Studienlage aber ist eher dünn. Eine Stiftungsprofessur an der Berliner Charité soll Kneipp derzeit besser erforschen, freilich vom Kneipp-Bund mitfinanziert – wie genau der jede Wahrheit wissen will, kann man hinterfragen.

Die Erfolgsgeschichte der Kneippkur beginnt ausnahmsweise nicht in Bad Wörishofen, sondern in Dillingen. Der 1821 in ärmlichen Verhältnissen geborene Kneipp soll während des Theologiestudiums am dortigen Lyzeum an Tuberkulose erkrankt sein. Daraufhin habe er, so die Legende, unter anderem, regelmäßig in der eiskalten Donau gebadet. Und wurde wundersam gesund.

Von der eigenen Heilung inspiriert, behandelte Kneipp immer öfter Kranke, einige wohl mit guten Ergebnissen während einer Choleraepidemie. Er kämpfte erfolgreich gegen Widerstände, weniger erfolgreich gegen Landflucht und das moderne Industrieleben und wurde mit einem Bestseller über die Wasserkur europaweit berühmt.

Der Erfinder der Wassertherapie war Kneipp wahrlich mitnichten. Er borgte großzügig bei früheren Autoren; vieles war längst bekannt, aber eben nicht berühmt. Kneipp, der Charismatiker, forschte, ergänzte und fügte einzelne Puz­zlestücke zusammen; Heilpflanzen oder Wickel hatten jetzt das Label Kneipp.

Und eine werbewirksame Kultfigur. Kneipp verhalf der Naturheilkunde zu neuer Anerkennung und neuen Wegen. Zehntausende strömten von da an nach Bad Wörishofen. Ein ganzer Tourismuszweig entstand.

Bad Wörishofen Wer einen Kneippkuraufenthalt in Bad Wörishofen machen möchte, kann das beispielsweise im Sebastianeum tun. Das Kneipp- und Gesundheitsresort wurde schon 1891 von Kneipp selbst gegründet und bietet über 120 Kneippsche Anwendungen. Weitere Infos: www.sebastianeum.de/

Kneippkuren können Urlauber an vielen Orten vor allem im Süden und Westen Deutschlands machen. Derzeit gehören insgesamt 53 staatlich anerkannte Kneippheilbäder und -kurorte in Deutschland zum Kneippverband. Eine Auflistung sowie eine Übersichtskarte finden sich unter www.kneippverband.de/heilbaeder-kurorte/.

„Kneipp ist eines der ganz großen Naturheilverfahren der Traditionellen Europäischen Medizin“, sagt Klaus Holetschek. Holetschek ist Präsident des Bayerischen Heilbäder-Verbandes (BHV), zu dem derzeit 47 Heilbäder und Kurorte gehören. Auch Bad Wörishofen. Wer als Heilbad anerkannt werden möchte, muss unter anderem einen Kur- und Badearzt im Ort haben und eine Luftmessung der Schadstoffbelastung durchlaufen haben.

Traditionelle Europäische Medizin, wie Holetschek sagt, dieses Wort hört man jetzt öfter im Umfeld von Kneipp. Nicht umsonst klingt es nach Tradi­tioneller chinesischer ­Medizin und eben nicht nach Wassertreten und Muff der fünfziger Jahre. Denn wunderbar zum Zeitgeist zu passen reicht nicht mehr.

Noch Mitte der neunziger Jahre gab es nach Holetscheks Angaben bundesweit rund 900.000 ambulante Kuren. Dann kam die Gesundheitsreform und zerrieb die Kur, Übernachtungszahlen und Verweildauer brachen ein. 2018 habe es deutschlandweit bis Ende September nur noch 27.000 ambulante Kuren gegeben, gibt der BHV an.

Vorwiegend Privatzahler

Im Sebastianeum sind jetzt 70 Prozent der Gäste Privatzahler. Auch ein soziales Problem für eine Therapie, die eigentlich jedem Bedürftigen zugänglich sein soll. Doch nicht nur die Politik hat für Veränderung gesorgt. Auf dem Gesundheitsmarkt gibt es mittlerweile starke Konkurrenz, vor allem aus Fernost: Yoga, Akupunktur, Ayurveda. Exotische Naturheilverfahren sprechen erfolgreich die junge Generation an. Kneipp hat etwas versäumt in der Außendarstellung.

Es ist ruhig im Sebastianeum, die Atmosphäre ist eher die einer Herberge als eines Hotels: Die Gäste grüßen einander auf den Fluren, Fremde essen gemeinsam am Tisch zu Mittag. Lesen Zeitung auf der Terrasse. Man hat Zeit. Das Leben fließt entschleunigt hier.

Im Büro empfängt Cordula von der Ropp, leitende Ärztin im Sebastianeum. Sie ist aus der Schulmedizin gekommen, Kneipp überzeugte sie. Sie staunt, wie sehr die Verfahren sich mittlerweile verbreitet haben.

„Deutschland ist längst nicht mehr das einzige Zentrum der Kneippmedizin. Österreich und die Schweiz sind sehr aktiv, auch in den USA trifft man die Kneipp-Idee.“ Der Standort Bad Wörishofen kann dagegen ein Problem sein. „Bad Wörishofen strotzt nicht gerade vor Vitalität“, klagt von der Ropp. „Es gibt Leerstand, viele kleine und manche große Kurhotels haben zugemacht.“ Der Kurort Bad Wörishofen begnüge sich inzwischen mit einer Verweildauer von drei bis vier Tagen. „Aber das ist für Kneipp viel zu kurz.“

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Sie wollen jetzt mehr junge Leute ansprechen, trotz Bad Wörishofen. Die Ärztin von der Ropp wünscht sich eine veränderte Mentalität: „Es wäre schön, wenn man nicht nur alte chinesische Traditionen ausgräbt, sondern auch alte europäische wiederbelebt.“

Sich selbst in die Pflicht zu nehmen, das fordere Kneipp. „Das haben wir ein bisschen verloren. Wir sind verwöhnt aufgewachsen. Da streckt man sich lieber hin und lässt jemanden machen.“

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