Klischees über Sinti und Roma: „Ich habe mir eine Wut angefressen“
Dotschy Reinhardt ist Musikerin und eine entfernte Verwandte von Django Reinhardt. Der erstarkende Nationalismus von AfD und Co. trieb sie in die Politik.
taz: Frau Reinhardt, zunächst muss ich Sie nach Ihrem Familiennamen fragen. Sind Sie verwandt mit dem Musiker Django?
Dotschy Reinhardt: Ich habe keinen direkten Familienzweig zu ihm, aber wir gehören zur selben Großfamilie. Django Reinhardt war mütterlicherseits ein Reinhardt und väterlicherseits auch ein bisschen. Er war somit ein deutscher Sinto, seine Mutter kam aus dem Elsass. Ich habe auch Verwandtschaft im Elsass. Das ist unser Link.
Nun ist ja eines der vielen Klischees über Sinti und Roma, dass sie so musikalisch sind. Sie sind auch zuerst als Musikerin bekannt geworden. Wie kam das?
Natürlich sind nicht alle Sinti und Roma musikalisch. Das sind auch bei uns Einzelfälle. Solche Klischees sind Trugbilder und haben selten mit der Realität zu tun. Sie lenken im Gegenteil vom harten Leben ab, das Sinti und Roma heute noch haben. Andererseits haben sich bei mir persönlich alle diese Klischees bestätigt: Ich bin musikalisch, liebe die Natur und meine Familie über alles, ich sehe sogar so aus mit den dunklen, langen Haaren! Daher ist der Umgang mit solchen Klischees sehr schwierig für mich, auch für andere Sintizas oder Romnija. Ich will von diesem Schubladendenken weg. Ich möchte mit meiner eigenen Stimme sprechen und singen dürfen. Und nicht irgendwelche Rollenbilder ausfüllen, nur weil es besser für die Verkaufszahlen wäre oder einem Veranstalter besser ins Programm passt.
Als entfernte Verwandte von Django ist Dotschy Reinhardt zur Berlinale-Eröffnung mit dem Film „Django“ am heutigen Donnerstag eingeladen. Reinhardt, 1975 in der Nähe von Ravensburg geboren, veröffentlichte 2006 ihr Debütalbum, „Sprinkled Eyes“. Seither sind zwei weitere Alben von ihr erschienen sowie zwei Bücher: „Gypsy. Die Geschichte einer großen Sinti-Familie“ (2008) und „Everybody’s Gypsy. Popkultur zwischen Ausgrenzung und Respekt“ (2014). Voriges Jahr gründete Reinhardt den Landesrat Roma und Sinti, RomnoKher Berlin-Brandenburg. Die Selbstorganisation soll nun einen Rahmenvertrag mit dem Senat aushandeln, der der Minderheit ein Mitspracherecht in der Landespolitik geben soll.
Sie meinen, manche wünschen sich von Ihnen mehr „typische Gypsy-Musik“? Das kommt ja in Ihrer Musik durchaus vor, aber eben auch Pop und Bossa Nova.
Es gibt ja Bands, die traditionelle Musik wie die von Django oder Schnuckenack Reinhardt nachspielen. Ich finde es gut, dass diese Tradition bewahrt wird. Aber mein Weg war das nicht. Ich bin mit amerikanischem Jazz aufgewachsen und mit brasilianischem, vor allem Bossa nova, habe mich früh mit indischer Musik auseinandergesetzt. Und wollte über diese Grenzen hinaus Musik machen. Das ist meine musikalische Identität, die ich ausleben wollte. Und auch sonst: Ich lasse es mir eben nicht nehmen, mal weite, bunte Röcke zu tragen, die Natur zu lieben und auch mal mit dem Wohnwagen rumzufahren. Aber ich werde mich bestimmt nicht in Zigeunerklischees pressen lassen!
Auf Ihrem Debütalbum singen Sie an einer Stelle auf Sinti-Romanes: „Es gibt nichts Schöneres, als auf Reisen zu sein / Bei deiner Familie; beim Lagerfeuer zu sein.“ Dann ist das nicht nur ein Klischee, Sie machen das tatsächlich?
Mit der Weltpremiere des französischen Films „Django“ eröffnet am heutigen Donnerstag die Berlinale. Das Regiedebüt von Etienne Comar konkurriert im Wettbewerb des Festivals mit 17 Filmen um den „Goldenen Bären“ als bester Film. Er behandelt die Flucht des Gitarristen, der als Vorreiter des europäischen Jazz gilt, aus dem besetzten Paris im Jahr 1943.
„Zu Reinhardts Zeit wurden Sinti von den Nazis verfolgt und schikaniert und im Konzentrationslager umgebracht. Und da sind wir dann wieder ganz in der Gegenwart, in der Sinti und Roma, aber auch Homosexuelle und andere Minderheiten in vielen Ländern immer noch verfolgt werden“, so Berlinale-Direktor Dieter Kosslick. (sum)
Na ja, es sind eher Kindheitserinnerungen. Früher fuhr man wirklich im Sommer raus mit anderen Familien. Wir pachteten Plätze bei Bauern oder hatten bestenfalls einen Campingplatz, der auch Sinti anfahren ließ. Viele Campingplatzbesitzer haben das nicht gemacht und Sinti mit fadenscheinigen Gründen oder auch offen rassistisch abgelehnt. Dennoch: Es war eine wunderschöne Zeit. Für Kinder ist es ja toll, in der Natur und mit anderen Kindern zu spielen. Aber ich habe auch andere Bilder im Kopf: dass wir mal mitten in der Nacht den Platz räumen mussten, weil irgendwelche Neonazis dachten, sie müssten uns verjagen.
Das haben Sie erlebt?
Ja, in Ostdeutschland, bei Rostock irgendwo. Am Tag drauf fuhren wir mit den Wohnwagen auf einer breiteren Straße, und nebenher fuhren wieder die Neonazis und haben mit Steinen geschmissen. Wir Kinder mussten uns bücken in den Autos, um uns zu schützen. Das waren richtig große Steine, sie fuhren vielleicht zwei Kilometer lang neben uns her, bis ihre Steine alle waren. Gott sei Dank ist nichts passiert.
Sie sind in Ravensburg nahe dem Bodensee aufgewachsen. Wie war Ihre Kindheit jenseits der Ferien?
Die Vorschulzeit habe ich oft bei meinen Großeltern verbracht, in Ummenwinkel. Das war im Nationalsozialismus ein sogenanntes Zigeunerzwangslager gewesen: ganz primitive Baracken ohne sanitären Anschluss, ohne Heizung, umzäunt. Die Erwachsenen wurden zur Arbeit gezwungen, permanent gab es Razzien, später wurden viele Familien nach Auschwitz deportiert. Nach dem Krieg sind einige Überlebende in die Siedlung zurückgekehrt.
Und Ihre Eltern?
Mein Vater war Geigen- und Antiquitätenhändler, meine Mutter hat ihm geholfen. Für mich war es wunderbar in Ummenwinkel, ich wusste ja nichts über die grausame Geschichte des Ortes. Es gab viele Tiere, das Kleinvieh meiner Großeltern, ich durfte einen Hund haben.
Haben Ihre Großeltern schon in der Nazizeit dort gelebt?
Mein Großvater ist dort aufgewachsen, er hat das alles als kleiner Junge miterlebt. Meine Großmutter kam in den Nachkriegsjahren dorthin, sie haben in den frühen 50ern geheiratet.
Viele Sinti und Roma erzählen ja ihren Kindern gar nicht, dass sie einer Minderheit angehören, um sie vor Diskriminierung zu schützen. Wie war das bei Ihnen?
Jedes Kind hat ja erst einmal ein normales Ich-Empfinden. Man hinterfragt nicht: Was bin ich? Erst als ich eingeschult wurde, habe ich gemerkt, dass ich anders wahrgenommen werde. Und natürlich hatte ich meine Eigenheiten, die sicher nicht geholfen haben, mich zu integrieren: Ich liebte den Jazz von Kindesbeinen an, und ich war wie eine Puppe angezogen. Meine Mutter hat mir und meiner kleineren Schwester immer tolle, schicke Kleider genäht.
Sie wurden schräg angeschaut in der Schule?
Ja, und ich habe dort auch zum ersten Mal das Wort „Zigeuner“ gehört – und zwar gleich mit dem Zusatz: „Du dreckige Zigeunerin!“ Ich wurde zuerst ganz schön gemobbt. Es war zeitweise eine ziemliche Überwindung, hinzugehen. Zu Hause hatte man mir nie klargemacht, dass ich einer Minderheit angehöre. Man hatte mir nur beigebracht, ein paar Sätze auf Deutsch zu reden.
Sie haben zu Hause Romanes gesprochen?
Ja, und das mache ich bis heute. Meine Schwester war da schon immer offener. Sie war auch besser integriert, weil sie im Kindergarten war und viel besser Deutsch sprach, als sie zur Schule kam. Kinder in den Kindergarten zu schicken kostete Sinti-Eltern damals große Überwindung: Das Misstrauen gegen staatliche Stellen aller Art war nach der Erfahrung des Nationalsozialismus sehr groß.
Auch Ihre Familie hat im Holocaust viele Mitglieder verloren. In Ihrem ersten Buch schreiben Sie, dass diese Geschichte aber – wie in vielen Sinti-Roma-Familien – ein Tabu war.
„Tabu“ ist vielleicht nicht das richtige Wort. Aber meine Großeltern konnten nicht darüber reden. Meine Großmutter hatte miterleben müssen, wie ihre ganze Familie auseinandergerissen und inhaftiert wurde. Sie war ein kleines Kind und musste trotzdem harte Zwangsarbeit leisten. Ihr Vater – mein Urgroßvater – und sein Sohn wurden durch verschiedene Lager geschleppt: Dachau, Sachsenhausen, Neuengamme. In Mauthausen sollte es mit meinem Urgroßvater zu Ende gehen, er war schon in der Gaskammer. Da riss ein SS-Mann die Tür auf und fragte, ob da Musiker seien. Mein Urgroßvater konnte Geige spielen und meldete sich. Man hat ihn rausgeholt, in Kleider gesteckt und auf einer Naziparty spielen lassen. Das war seine Rettung. Sein Sohn hat das KZ leider nicht überlebt.
All dies haben Sie erst später erfahren?
Ja, darüber wurde nie gesprochen, erst recht nicht vor den Kindern. Trotzdem wusste jeder, dass man den „Gadsche“, den Nichtroma, nie trauen kann, vor allem den Behörden nicht. So bin ich aufgewachsen, das hat uns meine Großmutter als Matriarchin – sie war früh verwitwet – immer klargemacht: Da draußen, das ist der Feind! Also bleibt zusammen. Sie war einfach traumatisiert, konnte das nie aufarbeiten.
Wie kamen Sie eigentlich von Ravensburg nach Berlin?
Mein Mann bekam 2003 einen Job als Sänger beim Swing Dance Orchestra von Andrej Hermlin. Ich habe mir dann hier wieder Musikerkontakte gesucht, bin zu Sessions gegangen, habe weiter Songs geschrieben. Aber die Inhalte meiner Lieder waren anderer Art als in Ravensburg, viel politischer. Ich habe den Geist der Stadt irgendwie aufgenommen. Ich habe auch angefangen, als Autorin zu schreiben, zum Beispiel für den Zentralrat der Sinti und Roma. Dann kam dieser Verlag und bot mir Unterstützung an für das Buch über meine Familiengeschichte. Das war toll. Da hatte ich ja viel mehr Platz als in Artikeln und Songtexten. Auch wenn ich anfangs natürlich Angst hatte, das nicht zu schaffen, zumal bei diesem schwierigen Thema. Später kam dann das zweite Buch. Da ging es mehr ums Hier und Jetzt: um das Gypsy-Label und wie es verwendet wird.
Sie meinen „Zigeunerschnitzel“ und so?
Ja, es geht um solch tief verwurzelten Antiziganismus, aber auch um Kapitalisierung und Labeling. Der Begriff „Gypsy“ hat ja ein richtiges Lifestyle-Image bekommen, auch in der Lebensmittelindustrie. Wobei ich es bei der Firma Maggi geschafft habe, dass sie ihre „Zigeuner“-Produkte aus dem Programm genommen hat. Dabei habe ich nur einmal mit der Zentrale in Geislingen telefoniert: Ich wollte nur eine Information. Bei dem Gespräch haben sie aber wohl was kapiert und das von sich aus gemacht. Vorbildlich!
Sie haben in Berlin angefangen, Politik zu machen, sind in die SPD eingetreten. Gab es dafür einen bestimmten Anlass?
Da ging es mir wie vielen: Dieser aufkommende Nationalismus in Europa hat mir Sorge gemacht. Die Gründung der AfD, Pegida, die ganzen Pappnasen – das ging mir so gegen den Strich! Ich habe mir so eine Grundwut angefressen. Und wieder hat das Medium nicht gereicht. Die Liedtexte hatten nicht gereicht, da schrieb ich Bücher – jetzt reichten die Bücher nicht mehr, um politisch wirklich etwas zu bewegen. Und da ich wusste, dass mein Urgroßvater, der KZ-Überlebende, der ein großes Vorbild für mich ist, in die SPD eingetreten war, habe ich es ihm gleichgetan. Zwar hatte ich lange eine richtige Abneigung gegen Parteien. Aber inzwischen weiß ich: Demokratie muss ausgefüllt, praktiziert werden, sonst ist sie tot.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe