Klinikum verletzt Sorgfaltspflicht: Skandal ohne Richter

Schwer krank hat das Klinikum Bremen Ost die Patientin Akin entlassen - aus Budgetgründen. Eine Verletzung der Sorgfaltspflicht, sagen Gutachter. Die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren ein.

Vorschnell entlassen: Süleyman Düsmezs kranke Mutter Ayten Akin. Bild: bes

BREMEN taz | Süleyman Düsmez kann das Misstrauen nicht ablegen. Das Misstrauen und den Zorn und die Ohnmacht, und dieses Gefühl, dass die Staatsanwaltschaft mehr hätte tun können, und dass sie doch alle unter einer Decke stecken, die Chirurgen vom Krankenhaus Bremen Ost (KBO), die Gutachter, die kommunale Klinikholding, ach, die ganze Ärztemafia. Da geht er bestimmt zu weit.

Aber es kommt auch so viel zusammen bei seiner Mutter: die übereilte Entlassung, der Defekt der Prothese, die übersehene Fußhebeschwäche, die anschließende Odyssee durch die übrigen Bremer Kliniken, die Nachoperationen. Und vor allem ist da dieser Satz, ein skandalöser Satz. Medizinische und pflegerische Geschäftsführung des KBO können sich nicht vorstellen, dass er so gefallen ist. Auf den Entlassungstermin hätten Fallpauschalen und persönliche Budgets keine Auswirkungen. "Das bleibt eine medizinische Entscheidung", versichert das KBO.

Wer den erschreckenden Satz gesagt haben soll? Irgendein Pfleger der chirurgischen Station des KBO, an dessen Namen Düsmez sich nicht erinnert. Wann genau? Vielleicht am Tag selbst, vielleicht einen zuvor. "Ich weiß es nicht mehr", sagt er, "ich will nicht lügen". Und wer protokolliert schon ein Gespräch auf dem Krankenhausgang.

Aber der Satz ist ihm damals in die Glieder gefahren, wie ein Schreck, den "werde ich nie vergessen", sagt Düsmez. Und dieser Satz würde mit einem Schlag alles erklären: "Ich weiß gar nicht, was Sie wollen", habe ihn ein Pfleger angesprochen, "das Budget ihrer Mutter ist doch aufgebraucht. Wir verdienen nichts mehr daran."

Es war nämlich so: Die Chirurgenarbeit war erledigt, die Gelenkprothese implantiert, und niemand hätte ahnen können, dass sich später die Drähte lösen. Und dann ist Ayten Akin nach Hause geschickt worden, am 17. Juli 2008 gegen 13 Uhr, so stehts auch im Gutachten. Krank, lebensbedrohlich krank.

"Die haben meine Mutter entsorgt", sagt Düsmez. Eine Stellungnahme vom KBO zum Fall gibt es nicht, ein schwebendes Verfahren. "Wir nehmen die Sache ernst", sagt der Sprecher der Staatsanwaltschaft. Aber "fahrlässige Körperverletzung ist ein Erfolgsdelikt", erklärt er. Das heißt: Es müsste einwandfrei feststehen, dass die 75-Jährige einen Schaden erlitten hat. Und dann müsste noch bestimmt werden, dass der genau durch die unterlassene Behandlung verursacht wurde und durch nichts anderes. "Es bedarf immer einer Kausalität", sagt die Staatsanwaltschaft.

Es sei denn, die Ermittler nähmen Vorsatz an: Dann wäre der Versuch strafbar. Aber: Wer wollte das tun? Und könnte man das Unterlassen einer medizinischen Betreuung als eine das Leben gefährdende Behandlung werten?

Ayten Akin sitzt da, auf ihrem Bett, wie eine Überlebende. Müde wirkt sie, zerbrechlich, hinfällig. Sie spricht kaum Deutsch. Ihr Sohn Süleyman Düsmez übersetzt die Fragen ins Türkische, sie antwortet, leise, aber entschieden. Manchmal wirft sie einen Satz ein, wenn er erzählt. An einiges kann sie sich nicht erinnern. Dann wendet er sich ihr zu, versucht in kurzen Sätzen die verlorenen Bilder wachzurufen, die Stimme wird zärtlich.

Dabei ist Düsmez eher ein impulsiver Typ. Und er kann nerven, keine Frage. Wenn er etwas mitteilen will, dann lässt der sich nicht abwimmeln, von Pflegern nicht, von Ärzten nicht und auch nicht von der Staatsanwältin: Will nicht mit ihm telefonieren? Dann setzt er sich eben hin und schreibt einen Brief, mit Ausrufezeichen und zornigen Floskeln.

Wahrscheinlich hat seine Mutter überlebt, weil er eben so impulsiv ist. Denn schon von Anfang an hatte Düsmez ein mieses Gefühl beim Entlassungstermin. "Ihr Zustand war katastrophal", sagt er, "ich kenne ja meine Mutter." Seit sechs Jahren schon pflegt er sie. "Ich mache fast nichts anderes mehr", erzählt er. Dass man sie so nicht entlassen dürfe, habe er der Ärztin gesagt. Aber Frau Dr. Sadyie Y. beharrt auf dem vorgesehenen Termin. Chirurgisch sei ja alles abgeschlossen. "Aber doch nicht internistisch!", wendet Düsmez ein. Keine Antwort mehr.

Düsmez hätte seinen Protest zu Protokoll geben können, und darauf bestehen, seinen Hinweis zu notieren: Dass seine Mutter seit der OP den Fuß nachzieht. Das weiß er da aber noch nicht. Und man geht ja auch nicht nur mit Zeugen Krankenbesuche machen. In den Akten fehlen deshalb seine Einwände. Und die rechtsmedizinischen Gutachten basieren auf den Akten.

Akuter Natriummangel

Muskelschmerzen, Krämpfe, "sie war nicht mehr richtig ansprechbar". Kaum sind die beiden zu Hause, telefoniert Düsmez mit ihrem Hausarzt. Dann ruft er einen Krankenwagen. Der bringt sie ins Klinikum Bremen-Mitte (KBM). Um 15 Uhr wird sie dort aufgenommen. Ihr Zustand ist kritisch: Akuter Natriummangel. "Der aufnehmende Arzt war schockiert", sagt Düsmez. Am nächsten Abend erstattet er Anzeige. Hyponatriämie ist eine häufige Störung im Alter, auf 117 Millimol pro Liter Blutserum ist die Konzentration gefallen, der Normbereich beginnt bei 135 Millimol. Ein Wert unter 115 Millimol "kann zum plötzlichen Tod führen", heißt es in der Fachliteratur.

Sie sind etwas verschreckt beim KBO, der große Bremer Klinikskandal, hier hatte er gespielt. Viereinhalb Jahre Haft hat der kaufmännische Geschäftsführer gekriegt. Ökonomisch ist der Druck hier besonders groß. Jetzt will man eigentlich nur noch positive Schlagzeilen. Selbst zur allgemeinen Situation der medizinischen Versorgung und pflegerischen Betreuung soll deshalb geschwiegen werden. Dabei sind kommunale Betriebe doch zur Auskunft verpflichtet, sollen wir da jetzt wirklich vor Gericht…? Ach so, es findet sich doch ein Termin.

Fein. Am Tisch gegenüber: der medizinische Geschäftsführer des KBO, mit hängenden Schultern, und die pflegerische Geschäftsführerin am Tisch gegenüber, reserviert, am Rand die Holding-Sprecherin wie eine schweigende Aufsichtsperson mit geradem Rücken. Das Gespräch stockt, hält sich kurz bei den Segnungen des neuen Beschwerdemanagements auf, immerhin, gut dass es das gibt, da hätte das Personal Düsmez ja mal drauf hinweisen können. Nichts zum Fall selbst, schwebendes Verfahren.

Nur so viel: Es war keine besonders angespannte Personalsituation in den fraglichen Wochen, Normalbelegung. Und dieser Satz vom Budget, wie soll der noch mal geheißen haben, aufgebraucht? Ach nein, unvorstellbar. Die Budgets und die Verweildauer - das ist nur ein abstrakter Zusammenhang. "Das bleibt eine medizinische Entscheidung." Und selbstverständlich, Vorerkrankungen werden in jeder Fallakte vermerkt.

Auch dass Ayten Akin unter chronischer Natriämie leidet, war im KBO bekannt: Hier war ihre Elektrolytschwäche 2004 erstmals diagnostiziert worden und danach mehrfach behandelt. Aber natürlich auf einer anderen Station. Und nicht von Sadyie Y.

Die entlassende Ärztin im KBO, die über die operative Therapie maligner Struma promoviert hat, hätte Düsmez geraten - aber dafür ist er der einzige Zeuge - seiner Mutter einfach mehr Salz ins Essen zu kippen. Ein simpler Küchentipp. Ein Wahnsinn, sagt jeder Internist. Therapie durch eine langsame Korrektur wäre angezeigt, durch Infusionen, sonst drohen Hirnblutungen und Schäden der Nervenzellen, bleibende.

Aber Assistenzärztin Y. ist keine Internistin. Und Frau Akin ist keine einfache Patientin. Schwierigkeiten macht sie bei der Medikamentenvergabe, und mit ihr zu sprechen ist auch mühsam. Und dann noch der Sohn, der ständig meckert.

Die Entlassung geht fix: Laborergebnisse werden nicht abgewartet oder der Befund nicht ausgewertet, obwohl um 11.55 Uhr erhoben. Was soll schon passieren? "Die Entlassung der Patientin", schreiben die Gutachter, "ist als ärztliche Sorgfaltspflichtverletzung anzusehen." Na und? Weder hat die Ärztin falsch geparkt noch ist sie zu schnell gefahren: Sorgfaltspflichtverletzung ist kein Delikt. Da brauchts schon eine konkrete Schädigung für Sanktionen.

Akin ist ja nicht dran gestorben und hatte noch nicht einmal eine Hirnblutung. Blieben also höchstens die Verwirrtheits- und Unruhezustände, die später im KBM beobachtet wurden. Klar sind das die klassischen Symptome von Natriummangel, und klar treten sie nach den Lehrbüchern bei entsprechenden Werten zuverlässig auf.

Schwammiges Gutachten

Bloß könnten sie ja auch eventuell wieder andere Ursachen gehabt haben. Präzisierung täte not. Also wird ein zweites Gutachten angefordert. Ein halbes Jahr später liegt es vor und macht alles nur noch schwammiger: "mit hoher Wahrscheinlichkeit", "mitursächlich", "nicht auszuschließen". Vielleicht hatten die Verwirrtheitszustände mit der Hyponatriämie aber auch gar nichts zu tun - keine Kausalität.

"Das Verfahren war daher insgesamt einzustellen", so steht es im Bescheid der Staatsanwaltschaft, ausgestellt am 6. Juli 2010. Was wäre der Dezernentin auch anderes übrig geblieben? Und was den Gutachtern? Die Sätze außerhalb des Protokolls können sie nicht berücksichtigen. Es wird sie auch niemand bezeugen, außer Süleyman Düsmez, der sie gehört hat und den sie umtreiben, den sie misstrauisch machen und zornig. In ihnen aber liegt der Skandal.

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