Klimaflüchtling über Flut und Dürre: „Das Meer kommt immer näher“
Sigeo Alesana aus Tuvalu spricht über die Gründe, seine sinkende Heimat zu verlassen. Er erklärt, warum Klimaflucht dort verpönt ist.
taz: Herr Alesana, können Sie mir Familienfotos aus Tuvalu zeigen?
Sigeo Alesana: Wir haben dort nie eine Kamera besessen. Daher haben wir nichts als unsere Erinnerungen.
Gute oder schlechte?
Ich vermisse meine Heimatinsel sehr. Ich komme von Nanoumea, ganz hoch im Norden. Es ist ein einmaliger Schatz, genauso wie unsere Kultur, unsere Lieder und Gebräuche. Aber dieser Schatz wird bald versinken.
Weil der Meeresspiegel aufgrund der Erwärmung des Pazifiks ansteigt?
Ich habe es mit eigenen Augen gesehen: Unser Haus stand mal 200 Meter vom Ufer weg, dann waren es nur noch hundert Meter. Bei der jährlichen „king tide“, der großen Flut, stand es jedes Mal unter Wasser. In zehn Jahren ist es vielleicht verschwunden. Das Meer kommt immer näher.
Was bedeutet der Klimawandel für die Wasserversorgung auf den Atollen?
Sie wird immer schlechter. Lange Dürreperioden sind jetzt normal. Das Wasser im Brunnen kann man oft nicht mehr trinken, weil es so salzig und schmutzig ist. Als Kind hatte ich ständig Hautinfektionen. Wie will man dort leben?
Die Geschichte von Familie Alesana: wird von Anke Richter im neuen Buch der Weltreporter erzählt: „Die Flüchtlingsrevolution“, Pantheon Verlag, 16,99 Euro
Die Lesung: am 19.9. lesen Herausgeber Marc Engelhardt, Afrika-Korrespondent Philipp Hedemann und die Syrerin Ameena A. im taz-Café um 19.30 Uhr aus dem Buch, moderiert von Sven Hansen
Wovon haben Sie gelebt?
Ich war Lehrer, aber wir alle müssen zusätzlich den Boden bewirtschaften: Kokospalmen und Pulaka – so heißt unsere Taro-Pflanze. Durch die Dürre, die Versalzung und die Wirbelstürme gab es immer schlechtere Ernten. Pulaka wächst jetzt nur noch so hoch (hält die Hand auf Kniehöhe).
Gibt es nicht genug Land für fast 10.000 Menschen?
Unsere Atolle sind winzig. Die meisten Familien haben viele Kinder, aber manchmal nur zwei kleine Grundstücke zu vererben. Wie sollen sie das gerecht aufteilen? Die Tradition besagt, dass immer nur die ältesten Jungen Land erben. Mein Cousin hat alles bekommen, ich nichts. Wenn der, der das Recht auf das Land hat, kein guter Mensch ist, was dann? Dann können wir dort nichts anbauen.
Das Inselleben war keine Idylle?
Nein. Es gibt viele soziale Probleme: zu viel Alkohol, zu viele Menschen auf wenig Raum. Tuvalu ist überbevölkert. Bei uns gibt es ständig Gewalt, und immer dreht es sich um Land. Meine Familie ist darüber komplett zerstritten. Einmal hatte mich mein Vater als Junge losgeschickt, Kokosnüsse zu ernten. Mein Onkel kam drohend mit der Machete auf uns Kinder zu und nahm sie uns alle wieder ab. Wir gingen mit leeren Händen nach Hause. Es war furchtbar. Ich wollte einfach nur Frieden.
War das der Grund, warum Sie gingen?
Ich wollte vor allem eine eigene Familie gründen. Eine bessere. Ich habe jetzt drei gesunde Söhne – sieben, vier und ein halbes Jahr alt. Sie hätten in Tuvalu nicht überlebt.
Warum nicht?
Als meine Frau Siga zum ersten Mal schwanger wurde, sind wir zur Entbindung auf die Hauptinsel ins Krankenhaus gefahren. Aber dort gibt es keine Notfallmedizin, nur einfachste Versorgung. Die Nabelschnur hatte sich um den Hals des Babys gelegt, aber niemand konnte einen Kaiserschnitt machen. Ein Nottransport nach Fidschi ging auch nicht, weil das Flugzeug von dort nachts bei uns nicht landen konnte. Wir haben keine Lichter, wir sind ein armes Land. Die Infrastruktur ist sehr schlecht. Unser Baby starb, und Siga verlor viel Blut. Sie hätte es beinahe auch nicht überlebt.
Wie erging es Ihnen danach?
Auch das zweite Baby verloren wir im achten Monat. Wieder gab es keine richtige ärztliche Versorgung. Wir wollten dann nur für einen Besuch nach Neuseeland fliegen, wo meine Schwestern lebten. In Fidschi mussten wir erst wochenlang auf ein Visum warten. Als wir endlich in Auckland landeten, war Siga wieder schwanger. Da wussten wir: Wenn wir Kinder haben wollen, können wir nicht nach Tuvalu zurück. Das konnten wir nicht riskieren.
Also blieben Sie illegal in Neuseeland?
Ich habe das Besuchervisum erst auf sechs und dann auf neun Monate verlängert. Ich musste einen Job finden, egal was, um meine Familie zu ernähren. Unser Geld war aufgebraucht. Ich arbeitete zuerst bei McDonald’s und versuchte es mit einem Arbeitsvisum. Es wurde abgelehnt. Aber ich habe dennoch geglaubt, dass ich es schaffe. Ich wusste auch, dass ich als illegaler „overstayer“ jederzeit geschnappt und abgeschoben werden könnte. Also hielt ich mich an alle Gesetze, trank keinen Alkohol, fuhr nur mit Führerschein. In Tuvalu läuft man überall hin, niemand hat ein Auto. In Neuseeland hatte ich schon nach zwei Monaten die Prüfung gemacht.
Was wäre passiert, wenn man Sie in der Zeit deportiert hätte?
Ich hätte es in einem anderen Land versucht. Ich wäre nicht in Tuvalu geblieben. Niemals.
Ein anderer „Overstayer“ – aus dem Inselstaat Kiribati – ist letztes Jahr aus Neuseeland abgeschoben worden, obwohl er in seinem Land mit den gleichen Klimaproblemen zu kämpfen hatte. Wie haben Sie es geschafft, die dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen?
Es war ein langer Prozess, bis ich schließlich einen Anwalt fand. In meinem Antrag habe ich nichts verschwiegen. Ich musste vor ein Tribunal und ihnen alles erzählen – über mein Leben, meine Eltern, all unsere Probleme in Tuvalu. Es waren harte Fragen über ein hartes Leben, stundenlang. Sie brachten mich sogar zum Weinen. Aber ich bin dem neuseeländischen Staat unendlich dankbar, dass er mich angehört hat. Meine Frau schrie vor Freude, als dann die Zusage kam. Nach sieben Jahren Ungewissheit!
Legal besitzen Sie jedoch keinen Flüchtlingsstatus.
Meine Antwort darauf ist, dass ich ein echter Klimaflüchtling bin. Auch wenn ich es juristisch oder formal nicht bin – in meinem Herzen und in Wahrheit bin ich es. Mein Antrag wurde in der Begründung auch deshalb bewilligt, weil meinen Kindern ein Leben in Tuvalu aufgrund der Zustände dort nicht zumutbar wäre. Ohne meine Familie wäre ich abgeschoben worden.
In Tuvalu, Kiribati und den anderen bedrohten Südsee-Staaten wird das Wort „Klimaflüchtling“ nicht gern gehört.
Das liegt daran, dass die Menschen dort zutiefst christlich sind und nur an das glauben, was in der Bibel steht. Dass Gott sie schützen wird und sie nicht versinken. Vor allem bei den Älteren ist die Klimakatastrophe ein Tabu. Aber ich war Lehrer, ich verstehe die Wissenschaft hinter dem Problem, ich kann es nicht verdrängen. Es gibt viele von uns aus Tuvalu, die nicht zugeben, dass sie Flüchtlinge sind. Sie werden es nie laut sagen. Aber sie unterstützen mich.
Bei Ihnen hängen Bibelsprüche an der Wand. Sind auch Sie gläubig?
Ich bin immer noch Christ. Wenn mein Herz mir sagt, dass ich Tuvalu verlassen muss, weil es dort nicht sicher ist, dann kommt das von Gott. Gott will, dass ich meine Familie ernähren und beschützen kann.
Dunedin, wo Sie jetzt wohnen, ist eine kalte Stadt und hat kaum polynesische Einwohner. Fühlen Sie sich hier wohl?
Ich liebe es, mit meinen Jungen ins Kino und den Park zu gehen. Parks gibt es in Tuvalu nicht. Tupou, mein Ältester, spielt Rugby und Fußball, er hat Auszeichnungen in der Schule. Ich weiß, dass sie hier etwas Richtiges lernen können und Chancen haben, die ich nie hatte. Ich will das Beste für sie und bin sehr glücklich, dass mein Leben sich so verändert hat.
Fehlt Ihnen das Inselleben manchmal?
Die Menschen dort sind entspannter, sie feiern mehr miteinander, tanzen und essen gemeinsam. Hier in Neuseeland musst du vor allem erst mal hart arbeiten. Das hat in Tuvalu nicht Priorität. Dort zählt die Gemeinschaft – hier zählt die Familie. Ich möchte, dass meine Kinder anders aufwachsen als ich. Sie essen auch lieber Brot als Taro (lacht).
Sorgen Sie sich dennoch um Ihr Land?
Wenn wir alle fortgehen, wird auch unsere Kultur und Identität verloren gehen. Das ist sehr traurig. Aber ich persönlich denke zuerst an meine Familie. Tuvalu kommt an zweiter Stelle.
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