Kleiner Hinweis zu Henry James: Im Spiegelkabinett
Henry James (1843–1916) hat ein facettenreiches Werk von Romanen, Erzählungen, Essays, Tagebüchern und Briefen hinterlassen (taz vom 26. 2.), ganz zu schweigen von einer Autobiografie, deren dritter Teil „The middle years“ 1917 als Fragment erschienen ist. James überträgt den Titel seiner Erzählung „The Middle Years“ von 1893 auf diesen Abschnitt. So entsteht eine Achse zwischen einer Fiktion, die dem Möglichen huldigt und sich dagegen wehrt, beim Wort genommen zu werden, und den Korrekturen einer der Fantasie der Leser keine Grenzen setzenden Literatur.
Henrys Erzählung von 1893 hat insofern Schlüsselfunktion, als sie auf knappem Raum ein Beziehungsmotiv erschließt, das im Werk des Autors den Rang einer treibenden Kraft beanspruchen kann. Der alternde Schriftsteller Dencombe und der junge Arzt Dr. Hugh treffen sich am Strand von Bournemouth. Als Hugh erfährt, dass Dencombe der Autor der „Middle Years“ ist, wendet sich das Blatt. Dr. Hugh verlässt seine Patientin, eine Gräfin. Er nimmt sich ausschließlich Dencombes an. Eine Freundschaft entsteht, die der Kunst und dem Leben Rechnung trägt.
Es war klug, die deutsche Fassung der Erzählung (Verlag Jung und Jung) Walter Kappacher anzuvertrauen: In dessen Roman „Der Fliegenpalast“ (2009) sind die Hauptpersonen ebenfalls ein alternder Schriftsteller namens H. wie Hofmannsthal und ein junger Arzt, der als Privatarzt einer Baronin unabkömmlich ist. Obwohl keine Übereinstimmung der Handlungsabläufe besteht, ist die Ausgangsposition identisch. Ich befinde mich als Leser in einem Spiegelkabinett; die Wiederholung erweist sich als das Wirkliche. Hansjörg Graf
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen