Klausur ohne Künast: Der Countdown läuft
Die Grünen-Fraktion steht auf ihrer Fraktionsklausur in Brandenburg unter Beobachtung und bringt sich auf Regierungskurs.
Immerhin war wenigstens das Wetter schlecht, die geplante Kanufahrt fiel aus. Sonst wäre es manchem in der Grünen-Fraktion bei ihrer Klausurtagung in Brandenburg doch etwas zu mulmig geworden. Denn gut, schier zu gut, läuft es knapp ein Jahr vor der Abgeordnetenhauswahl. Gleichauf mit der SPD bei 27 Prozent liegen die Grünen, und im Tagungshotel in Sommerfeld nordwestlich von Berlin gab es schon Gerüchte von neuen Zahlen: Nach denen sollen die Grünen erstmals stärkste Partei in Berlin sein.
Von der Nummer vier zur Nummer eins binnen eineinhalb Jahren, das muss eine Partei erst mal verkraften. Pro Kopf umgelegt steht aktuell jeder der 23 Grünen-Abgeordneten für mehr als ein Prozent der Wählerschaft. Auf den 54 SPD-Kollegen ruht rechnerisch nur halb so viel Verantwortung. Jetzt bloß nicht abheben, ist am Rande der Klausur immer wieder zu hören. Je mehr es zu gewinnen gibt, desto größer die Fallhöhe. Im Jahr 1998 vergeigten die Bundesgrünen fast die rot-grüne Koalition, als sie einen Benzinpreis von fünf Mark forderten.
Bei der Klausurtagung an diesem Wochenende will man nicht länger nur die freche Oppositionspartei mit einer bestimmten Klientel sein, sondern Verantwortung für die ganze Stadt übernehmen. Deshalb geht auch keiner hin und fordert lautstark etwa eine City-Maut. Realos, Linke, Kreuzberger, Prenzelberger: Sie alle haben sichtlich ihre Flügelkämpfe dem großen Ziel des Wahlsiegs untergeordnet.
Was immer sie jetzt machen und sagen: Die Grünen stehen unter Beobachtung, weil es in etwas mehr als einem Jahr Regierungspolitik und Realität sein kann. Das gilt für einen Beschluss, sich bei der S-Bahn von der ausschließlichen Bindung an die Deutsche Bahn zu verabschieden und ab 2017 ein Drittel des Netzes für andere Anbieter zu öffnen, genauso wie für die Umweltpolitik: Pläne für ein sogenanntes Klimastadtwerk, ein dezentrales Netzwerk von kleinen Blockheizkraftwerken in landeseigenen Gebäuden.
Ein solides Programm, eben dieses Denken über Kreuzberg und Prenzlauer Berg hinaus für die ganze Stadt - Renate Künast soll es zur Bedingung für eine Kandidatur gemacht haben. Die Chefin der Bundestagsfraktion nimmt nicht an der Klausurtagung teil. Noch hat sich Künast nicht entschieden, ob sie gegen Klaus Wowereit und seine SPD antritt. "Aber inzwischen stünden wir schon ein bisschen dumm da, wenn sie es nicht macht", sagt ein Abgeordneter. Am 6. November steht der nächste Landesparteitag an, zwei Wochen später könnte Künast ihre Kandidatur auch den Bundes-Grünen bei deren Parteitag erklären. Der findet passenderweise in Freiburg statt - dort ist schon seit 2002 ein Grüner Oberbürgermeister.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann