Kinotipp der Woche: Kino des Aufbruchs
Eine Retrospektive im Sinema Transtopia würdigt das afrodiasporische, antikoloniale Kino von Sarah Maldoror. Mit großem Programm zu Kontext und Werk.
Ein Raum voller Frauen an der Universität von Algier. Kurz nach der Unabhängigkeit diskutieren sie über die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Trotz der Politik der wichtigsten Fraktion der algerischen Befreiungsbewegung, dem FLN, der sich bis auf den Kampf gegen den Kolonialismus während des Befreiungskampfes eher bewahrend als verändernd positionierte, ist Aufbruchsstimmung zu spüren. Die Frauen beschreiben Einschränkungen ihrer Freiheit und neue Möglichkeiten. Die Frage, ob die algerische Frau glücklich ist, ist unter den Frauen umstritten. Nur der Mann vorne am Pult hat eine klare Haltung: „die algerische Frau ist die glücklichste der Welt“.
Die Szenen stammen aus „Elles“, einem gut zwanzigminütigen Dokumentarfilm, der vier Jahre nach der algerischen Unabhängigkeit eine vielfältige, komplexe Bestandsaufnahme der Situation von Frauen in dem nordafrikanischen Land versucht. Eine der Frauen fasst die Widersprüchlichkeit der Situation in dem schönen Satz zusammen: „Ich denke, wir haben viele Rechte, aber in Algerien reden wir nie über diese Rechte.“
„Elles“ („The Women“) entstand aus einer Zusammenarbeit des algerischen Regisseur Ahmed Lallem mit der französischen Regisseurin Sarah Maldoror (1929-2020), die als Regieassistentin mitwirkte. Ab Mittwoch würdigt die Frankfurter Kinothek Asta Nielsen Sarah Maldoror eine Woche lang mit der Filmreihe „Sarah Maldoror. Kontext“ im Sinema Transtopia. „Elles“ wird am 14. 6. im Rahmen eines der Kurzfilm-Abende der Retrospektive open air gezeigt (Beginn 21.30 Uhr).
Maldoror wurde 1929 im südfranzösischen Gers geboren. Ihr Vater stammte von der Antilleninsel Marie-Galante, die Mutter aus Gers. Während ihres Studiums in Paris gründet Maldoror mit Mitstreitenden die „Theaterkompaganie der Griots“, deren Namen sich auf westafrikanische Geschichtenerzähler:innen bezieht. Anfang der 1960er Jahre geht sie nach Moskau, um bei Mark Donskoi Film zu studieren. In Moskau lernt sie den Schriftsteller und angehenden Filmemacher Ousmane Sembène kennen, der zeitgleich mit ihr studiert. Nach zwei Jahren zieht sie mit ihrem Mann, dem Autoren und Aktivisten der angolanischen Befreiungsbewegung MPLA, Mário de Andrade und der gemeinsamen Tochter Annouchka in das eben unabhängig gewordene Algerien.
Sarah Maldoror: Kontext. Filmreihe mit Workshops und Vorträgen, 12. 6.–18. 6. im Sinema Transtopia
Maldoror macht inmitten dieser Aufbruchsstimmung erste Filmerfahrungen: neben der Arbeit als Regieassistentin bei Ahmed Lallem für „Elles“, arbeitete sie auch als Regieassistentin an Gillo Pontecorvos „Die Schlacht von Algier“ mit und an dem Film des amerikanischen Fotografen William Klein über das erste panafrikanische Festival in Algier 1969.
Kurz darauf realisiert sie mit „Sambizanga“ ihren einzigen abendfüllenden Film unter den über 40 Filmen, die sie im Laufe ihrer Karriere realisierte. Der Film, der auch die Retrospektive am 12. 6. eröffnet, adaptiert den Roman „Das wahre Leben des Domingos Xavier“ des portugiesisch-angolanischen Schriftstellers Luandino Vieira.
Dekoloniale Methoden
Der Film spielt Anfang der 1960er Jahre im Arbeiter:innenviertel Sambizanga in Luanda. Domingos Xavier arbeitet als Fahrer auf einer Baustelle. Wegen seines antikolonialem Widerstands wird er von der portugiesischen Polizei verhaftet. Während sich die Nachricht seiner Verhaftung über die Kanäle der Befreiungsbewegung verbreitet, macht sich seine Frau Maria auf die Suche nach ihrem Mann und klappert die Gefängnisse ab.
Maldoror inszeniert die Geschichte weitgehend zeitgeistig progressiv-konventionell, setzt aber vor allem in der Darstellung von Marias Suche deutlich andere Akzente als verwandte Filme der Zeit. So setzt Maria der Herablassung der Behörden und dem alltäglichen Sexismus eine störrische Beharrlichkeit der Selbstbehauptung entgegen. „Sambizanga“ gewann 1972 auf dem Filmfestival in Carthago den Hauptpreis.
Die Reihe der Kinothek begleitet die Filmvorführungen mit einer Reihe von Workshops und Veranstaltungen, darunter der Panel Talk „Transnational Archives – Ethics and Decolonial Methods“, zu dem Annouchka de Andrade, Annabelle Aventurin und Karina Griffith die Arbeit Maldorors in Zusammenhang mit den Werken der Filmemacher:innen Med Hondo and Wanjiru Kinyanjuis setzen (14. 6., 15 Uhr).
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Die Retrospektive baut auf eine Reihe von Würdigungen Maldorors in den letzten Jahren auf, so widmete ihr das Österreichischen Filmmuseum 2018 eine umfangreiche Werkschau. 2021 realisierte die Cineteca di Bologna gemeinsam mit der Film Foundation eine restaurierte Fassung von „Sambizanga“. 2022 präsentierte die Kinothek gemeinsam mit dem Filmkollektiv Frankfurt eine Werkschau der Regisseurin im Deutschen Filmmuseum am Schaumainkai. Sarah Maldoror hat diese Würdigung nur noch ansatzweise mitbekommen: sie starb im April 2020 an den Folgen einer Sars-CoV-2-Infektion.
„Sarah Maldoror. Kontext“ erkundet das Universum der Filmemacherin, zieht Linien durch ihr Werk wie ihre wiederkehrende filmische Würdigung des Schriftstellers Aimé Césaire, um den drei Filme der Reihe kreisen. Die Reihe ist als erster Teil angekündigt, wohl auch weil ein Teil des Werks aktuell durch Restaurierungen erst wieder sichtbar gemacht werden muss. Man darf also neben den aktuellen auch auf künftige Entdeckungen hoffen.
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