Kinderverschleppung nach Russland: Zittern, wenn geschossen wird
Knapp 20.000 ukrainische Kinder sollen bislang nach Russland gebracht worden sein. Zwei Schwestern und eine Mutter über eine monatelange Odyssee.
„Damals war das Gebiet hier besetzt. In der Stadt gab es einen Aushang für einen dreiwöchigen Ferienaufenthalt in Gelendschik. Kostenlos. Der war von unserem Amt für Bildung“, erinnert sich Irina. Sie meldete die Mädchen an.
Am 28. August fuhren vier Busse mit insgesamt 99 Kindern aus Wowtschansk los. Irina versichert, dass die Kinder stets telefonisch erreichbar gewesen seien. Als aber wegen der Kämpfe das Netz in Wowtschansk ausfiel, habe man den Kindern ein Video von der Bombardierung gezeigt. „Als ich wieder mit meinen Mädchen telefonieren konnte, weinten sie furchtbar und schrien ‚Mami, Gott sei Dank bist du noch am Leben!‘ Das war schrecklich“, erinnert sich Irina. Gleichzeitig versichert sie, dass die Kinder ein gutes Verhältnis zu den Betreuern gehabt hätten. Verpflegung und Unterbringung seien sehr gut gewesen.
In den sieben Monaten ihres Russlandaufenthaltes waren Anastasia und Ksenia 24 Tage in Gelendschik, etwa drei Wochen in Anapa, anschließend bis zum 24. März 2023 in Jeisk (alle Städte liegen in der südrussischen Region Krasnodar; Anm. d. Red.), danach in Woronesch. Ihre Mutter Irina fuhr dann mit einigen anderen ukrainischen Frauen durch Polen und Belarus, um ihre Töchter aus Russland zu holen. Erst am 3. April kam sie mit den Mädchen zurück in die Ukraine.
Irina erzählt auch von dem Angebot, in Russland zu bleiben und dass sie während ihres ganzen Russlandaufenthaltes vom Geheimdienst begleitet wurde. „Das Treffen mit unseren Kindern war beängstigend. Erst ließ man uns etwas Zeit. Dann schlug man uns im Grunde vor, dass wir in Russland bleiben sollten, mit Flüchtlingsstatus. Ich habe das abgelehnt“, erzählt Irina
Irina wurden bei der Abholung ihrer Kinder keine Bedingungen gestellt. Sie waren eine Gruppe von 14 Frauen mit ihren Kinder, einige auch aus dem Gebiet Cherson. Diese Kinder waren in einem Lager auf der Krim gewesen. Sie erzählten, dass sie dort die russische Nationalhymne hatten singen müssen.
Irina erzählt zwar, dass in Russland keine anderen ukrainischen Kinder sie um Hilfe zur Rückkehr gebeten hätten. Sie gibt aber zu, dass sie das Sanatorium in Woronesch, in dem die Kinder untergebracht waren, nicht hatte betreten dürfen.
Gefragt, ob dort auch ukrainische Kinder gewesen seien, die nicht wussten, wo sich ihre Eltern befanden, wendet sich Irina an ihre Tochter Anastasija. Die antwortet knapp: „Ja, ein Junge und seine Schwester. Die wurden dann irgendwo anders hingebracht.“
„Die Kinder haben weder körperliche noch seelische Folgen zurückbehalten“, glaubt Irina. „Nur, als sie bei ihrer Rückkehr die Zerstörungen gesehen haben, waren sie schockiert. Bei einem Rundgang durch Wowtschansk haben sie gesagt: ‚Mama, aber das hat doch nicht Russland gemacht, oder?‘ Jetzt sind sie schockiert, dass Russland so etwas getan hat. Sie zittern auch immer noch, wenn sie Schüsse hören. ‚Mama, das macht nicht Russland, oder? Dort war doch alles ruhig. Warum greift Russland uns an?‘ Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“
Juri Larin, ukrainischer Journalist
Aus dem Russischen: Gaby Coldewey
Die UN warnen vor steigender Gewalt gegen Kinder im Krieg
Mehr als 27.000 Gewalttaten zählten die Vereinten Nationen (UNO) weltweit laut einem am Mittwoch vor dem UN-Sicherheitsrat in New York vorgestellten Bericht. “So hoch wie nie zuvor“, sagte der stellvertretende Direktor des UN-Kinderhilfswerks Unicef, Omar Abdi. Dokumentiert wurden Entführungen, Tötungen oder die Rekrutierung von Mädchen und Jungen. Auch in der Ukraine wurde ein starker Anstieg schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen gegen Kinder registriert.
Tausende ukrainischer Kinder sind nach Angaben ukrainischer Behörden seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine in die Russische Föderation verbracht worden – die meisten aus Kinderheimen, Internaten und Krankenhäusern. Der Kontakt zu ihren Familien wird häufig eingeschränkt oder ganz abgebrochen. Oft bekommen die Kinder russische Pässe und werden unter Vormundschaft russischer Familien gestellt oder zur Adoption freigegeben. Dadurch wird eine Rückkehr zu den leiblichen Eltern bzw. in die Ukraine erschwert.
Maßgeblich an der Verschleppung der Kinder beteiligt ist die russische Kinderschutzbeauftragte Maria Lwowa-Belowa. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat im vergangenen März gegen sie und Präsidenten Wladimir Putin Haftbefehl wegen rechtswidriger Deportationen ukrainischer Kinder und mutmaßlicher Kriegsverbrechen erlassen. Beide müssen nun in 123 Ländern mit einer Verhaftung rechnen. Der Artikel 49 der Genfer Konvention zum Schutz der Zivilbevölkerung während eines Krieges verbietet jegliche Deportationen der einheimischen Bevölkerung aus besetzten Gebieten.
Moskau sieht den Sachverhalt naturgemäß anders und rechtfertigt sein Vorgehen. Es handele sich bei der Verbringung der Kinder in die Russische Föderation um eine Evakuierung aus bombardierten Gebieten gemäß der Genfer Konvention. Die Kinder kämen nicht aus besetzten Gebieten, sondern aus von Moskau als unabhängig anerkannten – wie die selbsternannten „Volksrepubliken Donezk und Luhansk“. Russland bemühe sich darum, die Kinder ihren Familien zurückzugeben.
Die Verschleppung wird nicht geheim gehalten. Das russische Fernsehen zeigt Bilder, auf denen ukrainische Kinder in Russland eintreffen. Die 38-jährige Lwowa-Belowa hat selber im Februar einen 15-Jährigen aus Mariupol adoptiert – sie hat bereits fünf leibliche und vier Adoptivkinder. Außerdem haben sie und ihr Mann die Vormundschaft für acht weitere Kinder.
Die ukrainische NGO „Save Ukraine“ hilft ukrainischen Eltern, den Kontakt zu ihren Kindern herzustellen. Mit Hilfe russischer Freiwilliger organisieren sie auch Reisen nach Russland, um ihre Kinder dort persönlich abzuholen. Mühsam, teuer und nicht ganz ungefährlich. Nach ukrainischen Angaben wurden bis Ende Juni knapp 19.500 Kinder deportiert. Die Dunkelziffer dürfte jedoch weit höher liegen. Nur 373 Kinder konnten bislang in die Ukraine zurückgebracht werden.
„Hier wird nur Russisch geredet“
„Mama, weine nicht, ich bin zu Haus! Alles okay, wir sind wieder zusammen!“ So erinnert sich Tatjana Medwedewa aus dem Dorf Zybine-Wowtschansk im Gebiet Charkiw an die ersten Worte ihrer 15-jährigen Tochter Diana nach ihrer Rückkehr aus Russland. Am 19. August 2022 war das Mädchen mit über 150 anderen Kindern aus ihrem ukrainischen Heimatdorf in ein Ferienlager in Gelendschik in der russischen Region Krasnodar gefahren. Während der Besatzung waren es allein im Gebiet Charkiw 561 Kinder. Nach 17 Tagen erfuhr das Mädchen, dass sie nicht nach Hause zurückkehren würde. Da hatte die ukrainische Gegenoffensive um Charkiw gerade begonnen.
Gleich nach der Ankunft habe man ihnen die Handys abgenommen, erzählt Diana. Sie bekamen sie dann einmal täglich für etwa 30 Minuten zurück. „Die Kinder weinten, ‚lasst unsere Eltern uns anrufen‘. Ich habe meins nicht abgegeben – das haben die Betreuer aber nicht gemerkt“, erzählt Diana. Das Mädchen erinnert sich auch an Gewalt von Seiten der russischen Betreuer. Zu einigen Kindern hätten sie auch gesagt: „Kein Wort über die Ukraine. Nur Russisch sprechen“, erinnert sich die Schülerin. Sie berichtet auch von russischen Journalisten, die versucht hätten, Fotos vom angeblich schönen Ferienaufenthalt der ukrainischen Kinder zu machen.
Dianas Vater, Nikolaj Schuljakow, reiste dann selber nach Russland, um seine Tochter zurückzuholen. Das erste Treffen mit seiner Tochter sei sehr emotional gewesen, erzählt Schuljakow: „Als ich zu ihr fuhr, rief sie alle zwanzig Minuten bei mir an und frage ‚Papa, wo bist du?‘ Als ich dann ankam, weinte sie und konnte nicht mehr aufhören“, erzählt Nikolaj. Viele der Kinder in dem Lager hätten nicht gewusst, wo ihre Eltern waren.
Die Rückfahrt war problematisch, weil die Russen wegen der ukrainischen Gegenoffensive alle Grenzübergänge im Norden des Gebietes Charkiw geschlossen hätten. Fast zwei Wochen verbrachten Diana und ihre Vater deshalb noch in den grenznahen russischen Städten Belgorod und Schebekino.
Dann gab es Gerüchte, man könne wieder in die Ukraine einreisen, erzählt Nikolai Schuljakow. Drei Stunden stand er mit seiner Tochter an der Grenze. Ein Geheimdienstmitarbeiter habe ihre Telefone überprüft und sie befragt. Sie mussten eine Genehmigung zur Rückkehr in die Ukraine beantragen. Man habe ihm angeboten, in Russland zu bleiben. Als der Vater sich darauf nicht einließ, erzählten die russischen Soldaten, dass entlang der Straße verminte Felder seien und überall geschossen werde. „Trotzdem ließen sie uns durch“, erzählt Nikolaj. Sie seien dann noch 12 Kilometer bis zum ersten ukrainischen Checkpoint gelaufen…
Juri Larin, ukrainischer Journalist
Aus dem Russischen: Gaby Coldewey
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Netzgebühren für Unternehmen
Habeck will Stromkosten senken