piwik no script img

Kinderschutzbericht veröffentlichtKinder in Gefahr

Lebensumstände in fast 10.000 Fällen als bedrohlich eingeschätzt - fast 40 Prozent mehr als 2008. Bei neun von zehn Fällen sah Jugendamt Handlungsbedarf.

Letzter Ausweg: Wenn sonst nichts hilft, müssen Kinder manchmal auch aus ihren Familien genommen werden. Bild: dpa

Den Behörden ist 2008 sehr häufig der Verdacht einer Kindeswohlgefährdung gemeldet worden. Das geht aus dem Kinderschutzbericht hervor, den das Bezirksamt Wandsbek erstellt hat. 9.645-mal ging bei den Allgemeinen Sozialen Diensten (ASD) eine Meldung ein, das ein Kind wegen seiner Lebensumstände Schaden zu nehmen drohe. Das ist ein Anstieg von 38,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr. In 90 Prozent der Fälle sahen sich die ASD genötigt zu handeln.

"Es kommt mehr ans Tageslicht, weil alle wachsamer geworden sind", sagt Wandsbeks Bezirksamts-Sprecherin Christiane Kuhrt. Der Bericht sei eine jährliche Wasserstandsmeldung. "Handlungsbedarf" bedeute, man müsse abklären, was zu tun sei. Vieles erledige sich dann - etwa wenn besorgte Nachbarn anriefen, weil ein Baby eine Schreiphase habe, oder wenn die Polizei den Lippenstiftdiebstahl einer 14-Jährigen melde.

Seit einigen Jahren ist dieser Bericht unscharf, weil die Polizei, von der der Löwenanteil der Meldungen stammt, alle Fälle von Jugenddelinquenz einfließen lässt. Doch allein die Hälfte der polizeilichen Meldungen nennt explizit den Verdacht der Kindeswohlgefährdung: In 1.764 Fällen wurde Vernachlässigung vermutet, 661-mal körperlicher Misshandlung und 101-mal sexuelle Misshandlung (siehe Kasten).

Kinderschutzbericht in Zahlen

2008 gab es 9.645 Meldungen wegen Kindeswohlgefährdung, die sich auf 6.612 Personen bezogen. Davon waren 2.744 den ASD-Ämtern bereits bekannt, 3.868 kamen dazu.

Die Anlässe: 3.878 Verdachtsmeldungen gab es wegen Delinquenz, 1.764 wegen Vernachlässigung, 1.749 wegen Erwachsenen-Konflikten (etwa häusliche Gewalt), 891 wegen Beziehungs-/Autonomiekonflikten, 661 wegen körperlicher Misshandlung, 359 wegen Sucht, 242 wegen seelischer Gefährdung (z. B. Suizid), 101 wegen sexueller Misshandlung.

Faktor Alter: Jüngere Kinder unter 12 Jahren sind am stärksten von Vernachlässigung bedroht. Ältere Kinder fallen meist durch Delinquenz auf.

Räumliche Verteilung: Die meisten Fälle gibt es im Bezirk Mitte mit 103,8 Meldungen pro 1.000 Kinder, die wenigsten in Nord: Hier sind es 75,7 Meldungen.

Jeder dieser 9.645 Fälle muss von den sozialen Diensten beurteilt werden. Nur bei neun Prozent sah man keinen Handlungsbedarf. In acht Prozent der Fälle wurde sofort interveniert. Bei weiteren 37 Prozent wurde innerhalb einer Woche Kontakt aufgenommen. Die übrigen Fälle erforderten "weitere Recherche" und sollen von den ASD-Teams im Auge behalten werden.

Dass die Lage oft ernst war, darauf deutet auch der drastische Anstieg der bezirklichen Inobhutnahmen hin. 2007 wurden 415 Kinder zum eigenen Schutz aus den Familien genommen; 2008 waren es mit 517 über 100 mehr - zusammen mit den Inobhutnahmen des zentralen Kindernotdienstes waren es mehr als 1.000 Fälle.

Insgesamt stieg die Zahl der Erziehungshilfen in den vergangen drei Jahren um 40 Prozent. Erst vor kurzem hatte CDU-Sozialsenator Dietrich Wersich für diesen Bereich einen Nachtragshaushalt beantragen müssen. Seine Sprecherin Jasmin Eisenhut wollte Zahlen des Berichtes gestern noch nicht kommentieren. Diese seien aber "Ausdruck der großen Anstrengungen, die im Bereich Kinderschutz vorgenommen werden, für die wir den Bezirken danken".

Sieglinde Friess, zuständige Fachsekretärin bei der Gewerkschaft Ver.di, sieht das anders: "Es werden mehr Fälle, das haben wir immer gesagt." Arbeitslosigkeit und Armut führten dazu, dass immer mehr Alleinerziehende Probleme hätten, ihr Leben auf die Reihe zu kriegen. "Unsere Grundforderung ist deshalb, dass die Personalbemessung in den ASD auf neue Füße gestellt wird", sagt Friess.

Erst im Frühsommer hatten 330 ASD-Mitarbeiter ihre Überlastung erklärt und die Verantwortung für den Kinderschutz symbolisch an CDU-Bürgermeister Ole von Beust abgegeben. Da es seither nur "kleine Nachbesserungen" gegeben habe, will Ver.di im November neue Protestaktionen starten.

"Es ist erfreulich, wenn die Bevölkerung in Sachen Kinderschutz sensibler wird", findet die SPD-Bürgerschaftsabgeordnete Carola Veit. Der Anstieg der Zahlen weise darauf hin, dass ein Schwerpunkt bei der Prävention liegen müsse. Eine gutes Mittel, Kinder zu schützen, bestehe darin, sie eine Ganztags-Kita besuchen zu lassen. Sind Kinder gefährdet, können Kita-Leitungen beim ASD eine höhere Stundenzahl beantragen.

Veit ist in dem Bericht ein Manko aufgefallen. 2008 hatten Kita-Leitungen 6.175-mal eine verstärkte Betreuung wegen Kindeswohlgefährdung beantragt. Genehmigt wurde dies nur für 892 Kinder. Veit findet: "Es kann nicht sein, dass die Kinderschutzkräfte in den Kitas einen Bedarf feststellen, der nur für einen Bruchteil anerkannt wird."

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!