piwik no script img

Kindern Corona erklärenWenn Normalität weg ist

Kinder haben ein Recht auf Gegenwart. Wie kann man ihnen in den Zeiten der Pandemie den Ernst der Lage vermitteln, ohne sie zu verängstigen?

Eine Zweijährige zeichnet in ihrer Quarantäne in Norditalien ein Virus Foto: Marzio Toniolo/Reuters

Sie habe ihren Kindern gesagt, dies sei wie Krieg ohne Bomben. Mütter und Väter stehen derzeit vor großen Herausforderungen: Eine davon ist es, ihren Kindern die derzeitige Lage plausibel zu machen. Diese drastische Charakterisierung der Situation, die eine Mutter gegenüber ihren drei Kindern wählt, gibt beispielhaft wieder, wie groß der Druck ist. Seitdem die Gesellschaft weiß, dass es nicht mehr allein auf regelmäßiges Händewaschen ankommt, hat sich das Leben in Familien grundlegend verändert.

Von den Eltern wird nun erwartet, dass sie ohne musikalische Grundkenntnisse auch den Bassschlüssel erklären können, ihr Homeoffice managen und Kontakt zu älteren Verwandten halten. Aber Mütter und Väter müssen ihren Kindern auch erklären, warum das vertraute Leben derzeit abhandenkommt. Manche Kinder werden fragen und explizit um Erklärungen bitten, andere hingegen bleiben schweigsam. Kinder haben ein gutes Gespür, was sie gegenüber Eltern und anderen Erwachsenen thematisieren können und was sie besser nicht ansprechen.

Wie so oft in der Erziehung geht es auch derzeit im Alltag zwischen Kindern und Erwachsenen um eine gute Balance. Doch wie stellt man in dieser auch für Eltern schwer zu überschauenden Situation eine ausgeglichene Kommunikation und Interaktion her? Wie lässt sich der Ernst der Lage vermitteln und erhoffte Einsicht in neue Zwänge erreichen, ohne ein Kind zu verängstigen?

Wahrscheinlich würden wir alle derzeit von Müttern und Vätern lernen können, die mit ihren Kindern aus Krisenregionen geflüchtet sind und die Strapazen, ja oft auch Bedrohliches zu überstehen hatten. Auch sie mussten und müssen eine Sprache für ihre Kinder finden, eine Familienerzählung schaffen, durch die der Verlust des bisher Bekannten, die Trennung von vertrauten Menschen, der gewohnten Umgebung, dem geregelten Alltag verstehbar zu machen. Im Übrigen sind gerade Kinder und Erwachsene, die traumatische Erlebnisse hinter sich haben, im Moment besonders angespannt und verletzlich.

Die Autorin

Sabine Andresen ist Pädagogin und Professorin an der Goethe-Universität in Frankfurt/M.

Einschnitte in die tägliche Routine

Kinder, nicht anders als Erwachsene, sind darauf angewiesen, dass sie Maßnahmen, Erwartungen, Einschnitte in die alltäglichen Routinen als sinnhaft erleben. Besonders für Kinder ist es dabei wichtig, dass sie ihr Vertrauen in ihre Bezugspersonen und Umgebung nicht verlieren.

Die Maßnahmen gegen eine exponentielle Verbreitung des Virus werden in der öffentlichen Diskussion durchaus in der Sprache eines Krieges kommuniziert. Wir führen einen „Kampf gegen Corona“. Insofern ist die Beschreibung der Mutter, es sei wie Krieg ohne Bomben, durchaus naheliegend, zumal die wirtschaftlichen und politischen Folgen in den Medien ausführlich thematisiert werden. Das bleibt Kindern und Jugendlichen nicht verborgen.

So stellt sich die Frage, wie Kinder und Jugendliche diese und andere Erklärungen hören, was sie empfinden, wenn sie die Großeltern nicht mehr sehen oder besuchen dürfen. Welche Gedanken gehen derzeit durch ihren Kopf, welche Gefühle entstehen, welche Bilder machen sie sich von ihrer Welt?

Recht auf Gegenwart

Einige Hinweise finden sich vielleicht in Erinnerungen älterer Menschen an ihre Kindheit in Zeiten radikaler Umbrüche und sozialer Notlagen. Solche Zeugnisse bieten einen Zugang zum kindlichen Erleben, sie ersetzen aber nicht das Gespräch und aufrichtige Interesse hier und heute. Kinder haben ein Recht auf Gegenwart und wir sollten uns dafür interessieren, wie sie darauf blicken und ihre Welt ordnen. Doch schon in normalen Zeiten, das zeigen Befragungen, haben Kinder und vor allem Jugendliche selten den Eindruck, Erwachsene würden ihnen zuhören und sich wirklich für sie interessieren.

Viele Entscheidungen von Politik und Behörden zur Eindämmung des Virus betreffen tägliche Routinen von Kindern und Jugendlichen. Natürlich sollen dadurch auch sie und ihre Lieben geschützt werden. Zugleich aber zeigen sich strukturelle Ohnmacht und Abhängigkeit von Kindern und Jugendlichen selten so deutlich wie heute. Hinzu kommt, dass diese Maßnahmen zum Schutz vor dem Virus zugleich Kinder und Jugendliche besonders schutzlos machen können. Das ist der Fall, wenn ihr Zuhause kein sicherer Ort ist und sie keine Möglichkeiten haben, ihm zu entfliehen und Hilfe zu bekommen.

In der medialen Darstellung werden junge Menschen in öffentlichen Räumen meist als uneinsichtig oder verantwortungslos dargestellt, aber wir dürfen nicht vergessen, dass ein Park für manche Kinder und Jugendliche die „Zuflucht“ vor Gewalt sein kann. Dies ist eine höchst prekäre Situation, die dringend „systemrelevante“ Entscheidungen und Handlungen erfordert. Die Pandemie darf nicht dazu führen, dass Hilfestrukturen für von Gewalt betroffene Kinder und Jugendliche wegbrechen. Sie können derzeit nirgendwohin.

Kindergärten und Schulen in Deutschland sind erst einmal geschlossen. Die meisten Kinder und Jugendlichen werden schnell realisiert haben, dass ihnen nicht etwa ein heimlicher Wunsch erfüllt werden sollte, spätestens nachdem klar wurde, dass auch die Freizeitaktivitäten in Vereinen, Schwimmbädern, auf dem Spielplatz, beim Boxen oder der Freiwilligen Feuerwehr nicht mehr zugänglich sind.

Normalität außer Kraft gesetzt

Alle Kinder und Jugendlichen verbringen inzwischen ihre Zeit mehr oder weniger zu Hause, dürfen vielfach ihre Freundinnen und Freunde nicht sehen und manche teilen sich die Räume mit ihren Eltern, die im Homeoffice arbeiten. Normalität ist derzeit also außer Kraft gesetzt. Doch was charakterisiert eine normale Kindheit und Jugend?

Nahezu alle Kinder verbringen in Deutschland sehr viel Zeit ohne ihre Eltern und außerhalb der Familie. Kinder und Jugendliche bewegen sich sehr früh zwischen pädagogischen Einrichtungen wie Kindergarten oder Schule und ihren Familien. Selbst die Ferien sind für viele keine Phasen der Häuslichkeit.

Abwechslung gehört zu den Routinen moderner Kindheit und Jugend, auch wenn das Ausmaß sich erheblich entlang der ökonomischen Möglichkeiten unterscheidet. Was sie als besondere Einschränkung erleben, ist für Kinder und Jugendliche in Armutslagen anders als für Gleichaltrige mit durchschnittlichen, gar sehr guten Bedingungen.

Die Folgen der Armut

So gehört zu den tagtäglichen Folgen von Armut in Deutschland, dass Kinder und Jugendliche selten Freundinnen und Freunde nach Hause einladen können, die Wohnungen sind schlicht zu beengt, auch haben viele keine Möglichkeit, regelmäßig einer Freizeitbeschäftigung nachzugehen, für die gezahlt werden muss.

In einer Befragung von Acht- bis Vierzehnjährigen, der „Children’s Worlds+ Studie“, haben diejenigen Kinder, die sich Sorgen um die finanziellen Ressourcen in ihren Familien machen, darüber informiert, dass sie selten etwas mit ihren Freunden unternehmen können, das Geld kostet wie etwa Ins-Kino-Gehen. Aus ganz anderen Gründen ist dies nun Normalität für alle Kinder und Jugendlichen in Deutschland.

Doch für von Armut betroffene Kinder und Jugendliche und ihre Familien stellt der Alltag in Zeiten der Pandemie vor weitere Mangelerfahrungen, denn wenn das beitragsfreie Mittagessen in Kita und Schule wegfällt, die Familie aber keine zusätzlichen Mittel erhält, wird die Versorgung mit elementarsten Dingen noch prekärer.

Unbürokratische Unterstützung nötig

Neben Betreuung, Unterricht, sozialem Miteinander, Anregung und Lerngelegenheiten fällt für anspruchsberechtigte Kinder und Jugendliche eine Mahlzeit in Kita oder Schule weg. Darum brauchen Familien eine unbürokratische Unterstützung, solange Kindergärten und Schulen geschlossen bleiben. Hier darf kein zusätzlicher Druck entstehen.

Insgesamt werden sich die Rahmenbedingungen, unter denen Kinder und Jugendliche diese Wochen erleben, also erheblich unterscheiden. Alle werden zuweilen Stress empfinden, traurig darüber sein, etwas nicht unternehmen zu können, ihre Freundinnen und Freunde vermissen, manche werden schlecht träumen, Angstgefühle entwickeln, vielleicht auch eine geliebte Person verlieren und trauern. Und es gibt plötzlich so wenige Möglichkeiten, sich abzulenken.

Doch viele Kinder und Jugendliche werden auch schöne Erlebnisse haben, sich geborgen und gut aufgehoben fühlen. Sie werden mehr Zeit in ihrer Familie verbringen, und das wünscht sich ein großer Anteil bei den Befragungen. Den Eltern gilt es Mut zu machen und zu danken, was sie an positiver Energie für ihre Kinder aufbringen.

Alle Kinder und Jugendlichen sind mehr denn je auf verlässliche Kontakte, also auf vertrauenswürdige Erwachsene, angewiesen. Sie müssen darauf vertrauen können, dass das, was Erwachsene ihnen zeigen, sagen, vermitteln und für sie entscheiden, richtig und wahr ist.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!