Kinderlähmung in Afghanistan: Krieg gegen die Krankheit
Shamzia geht von Haus zu Haus. Immer dabei: ihre Kühltasche. Sie enthält den Impfstoff gegen Polio. Denn die Kinderlähmung breitet sich aus.
S chwer fällt die gepanzerte Tür des weißen Toyota Land Cruiser ins Schloss. Hinter dem Geländewagen des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen hängt feiner Sand für Minuten aufgewirbelt in der warmen Luft. Es ist ein wichtiger Tag für die Mitarbeiter von Unicef, denn heute startet in der südafghanischen Provinz Kandahar eine Impfkampagne gegen Polio. Die erste seit vielen Monaten. Die Aufgabe der Helfer: So viele Kinder wie irgend möglich impfen.
Unweit des Geländewagens, in einem nahe gelegenen Park, jagen Dutzende Jungen mit heiligem Ernst zwei Fußbällen hinterher. Nur kurz halten sie inne, um mit großen Augen dem Konvoi aus weißen Jeeps zu folgen, der Unicef-Beobachter in die Provinzhauptstadt Kandahar bringt. Ihr Job ist die Überwachung der Impfkampagne. Denn es sind vor allem internationale Hilfsorganisationen, private Stiftungen und ausländische Regierungen, die den Kampf gegen Polio finanzieren und die sicherstellen wollen, dass ihr Investment lohnt.
Sie bringen das Geld, das Impfhelfer wie Shamzia finanziert. Die junge Afghanin ist heute Morgen mit ihrem Team aus vier Frauen für mehrere Straßenzüge verantwortlich. „Ich überwache die Impfkampagne. Wir haben damit begonnen, jedes Kind zu impfen. Es ist unsere Pflicht, regelmäßig vorbeizuschauen und nicht aufzuhören, bevor wir alle erreicht haben“, sagt sie. Die kleine Gruppe zieht von Haus zu Haus, klopft an Türen und spricht mit Müttern, die daheim ihre Kinder hüten. Immer dabei: eine Kühltasche mit Impfstoff und ein Buch, in dem Shamzia ihr Tagewerk protokolliert.
Die Arbeit ist mühsam. Die Frauen arbeiten sich die ungeteerte Straße voran. Hinter ihnen, an der Kreuzung, erzählt ein Stillleben schrottreifer Sowjetpanzer und Haubitzen von bewegten Zeiten und gescheiterten Großmachtambitionen. Links und rechts ducken sich einstöckige Häuser hinter hohen Lehmmauern. Wer an der Tür klopft, blickt kurz darauf in ein durch dünnen Netzstoff verhülltes Augenpaar. Die Frauen sprechen leise miteinander, dann tritt Shamzia ins Innere, in der Hand einen Spender mit Impfstoff. Vier Kinder, je fünf Tropfen. Dann geht es weiter zum nächsten Haus.
156 Polio-Fälle in Afghanistan und Pakistan
Während die durch den Poliovirus verursachte Kinderlähmung in nahezu allen Staaten der Welt ein Schrecken vergangener Tage ist, sterben in Afghanistan und dem angrenzenden Pakistan bis heute Menschen an der Krankheit oder sie bleiben für immer gelähmt. Im Jahr 2019 wurden 28 Fälle in Afghanistan und 128 Fälle in Pakistan gemeldet. Ein vermeidbares Schicksal, denn es gibt gut erforschte Impfstoffe. Und doch steigen die Fallzahlen jüngst wieder und mit ihnen wächst die Sorge, der Virus könne sich von Zentralasien aus erneut in der Welt verbreiten.
Kandahar gilt Beobachtern als Brennpunkt im Kampf gegen Polio, denn je schlechter die hygienischen Bedingungen sind, umso rascher verbreitet sich die Krankheit. Mit offenen Kanälen, in die ungefiltertes Abwasser läuft, bieten viele Viertel der Stadt dem Virus ideale Bedingungen. Die UN-Beauftragten sind sich deshalb einig: Ob Polio in Südafghanistan ausgerottet werden kann, entscheidet sich hier. Und damit der Kampf gelingt, braucht es Helfer wie Shamzia – und große Mengen Impfstoff.
Der Lagerraum im Westen Kandahars ist der wohl kälteste Ort der Stadt. Eine Phalanx aus Kühlaggregaten versorgt drei große Container mit eisiger Luft und hält den Impfstoff für Hunderttausende Kinder frisch. An jedem Morgen der viertägigen Kampagne füllen die Helfer hier ihre Kühltaschen, ehe sie in die Stadt ausschwärmen. Von den 28 im letzten Jahr registrierten Erkrankungen entfällt der Großteil auf die drei Südprovinzen Kandahar, Helmand und Urusgan. Doch es sind nicht nur die aktuell steigenden Neuinfektionen, worüber sich die Beobachter sorgen, sondern auch das, was in naher Zukunft droht: Denn in vielen Landesteilen konnten die Helfer Familien und deren Neugeborene über ein halbes Jahr hinweg überhaupt nicht erreichen.
Taliban-Gruppen, die mittlerweile 60 Prozent des Landes und 40 Prozent der Bevölkerung kontrollieren, hatten der Weltgesundheitsorganisation und dem Internationalen Roten Kreuz von April bis September 2019 den Zugang zu den von ihnen kontrollierten Gebieten verwehrt. Ihr Verdacht war, die afghanische Regierung nutze den intimen Zugang der Impfhelfer, um die Taliban auszuspionieren. Eine Taktik, die der US-amerikanische Auslandsgeheimdienst CIA einst in Pakistan bei der Jagd auf den wohl prominentesten Gast der Gruppe nutzte: Osama bin Laden, dem aus Saudi-Arabien exilierten Anführer al-Qaidas.
Ungeachtet der Dementi aus Kabul und Genf konnten aufgrund des Banns fünf Millionen Kinder im Süden und Osten Afghanistans nicht ausreichend gegen Polio geimpft werden – Menschen, die nun von der Krankheit bedroht sind und als potenzielle Träger des Virus andere gefährden. Die im Oktober gestartete Kampagne ist die erste, seit die Taliban das Arbeitsverbot am 25. September nach langen Verhandlungen aufgehoben haben. 500 Teams wie das von Shamzia sind nun unterwegs zu 220.000 Kindern in der Provinz Kandahar. Sie versuchen zu retten, was zu retten ist.
Doch von Haus zu Haus dürfen sie nur in den von der Regierung kontrollierten Gebieten ziehen. Wo die Taliban das Sagen haben, wird der Impfstoff zentral verteilt. Diese Einschränkung betrifft weite Teile der Provinz, denn Kandahar liegt im Herzen des von Taliban kontrollierten Territoriums. Selbst die seit Jahrzehnten im Land arbeitenden Vereinten Nationen müssen sich trotz ihres guten Rufs als unabhängige Organisation hinter Panzersperren, Sprengwänden und Stacheldraht verschanzen.
Die Arbeit der Impfhelfer wird zusätzlich durch religiös begründete Ängste in der konservativen Bevölkerung erschwert. Die Jordanierin Tamara Abu Sham erforscht im Auftrag der UN lokale Gemeinden und kennt die Befürchtungen der Menschen: „Ein entscheidender Grund, die Impfung abzulehnen, ist die Sorge, die Medizin sei nicht halal. Hinzu kommen Verschwörungstheorien. Manche Menschen glauben, der Westen will ihre Kinder sterilisieren.“ Um die Arbeit der Impfhelfer zu erleichtern, wird der Impfstoff deshalb aus Malaysia importiert. Fotos aus den Fabriken zeigen mit Kopftuch verhüllte, muslimische Arbeiterinnen beim Verpacken der Medizin und sollen so misstrauische Afghanen überzeugen.
In der afghanischen Hauptstadt Kabul empfängt der 38-jährige Sayed Hamid Daqiq den Besuch im Wohnzimmer seiner großzügigen Etagenwohnung. Mit den Problemen der Poliokampagne konfrontiert, nickt er schweigend. Zuvor hat er mit einem Ruck seine kraftlos baumelnden Beine mit den Händen gegriffen und sie für das Gespräch mühsam über Kreuz auf dem vor ihm stehenden Sessel abgelegt. „Wenn ein Impfteam an unsere Tür klopft und nach meinen Kindern fragt, bin ich glücklich. Denn als ich ein Kind war, gab es keine Impfung. Immer wenn ich von neuen Fällen höre, bin ich enttäuscht, dass es wieder jemanden getroffen hat.“
Tamara Abu Sham, Forscherin im Auftrag der UN
Im Alter von vier Monaten erkrankte Daqiq an der Kinderlähmung. Weder seine verzweifelte Mutter noch die Ärzte konnten etwas tun. Heute arbeitet Daqiq als Beamter an der heiklen Überwachung der jüngsten Präsidentschaftswahlen und hat somit das zweifelhafte Glück, acht Leibwächter um sich zu wissen. Starke Hände, die ihn aus dem Bett, in den Rollstuhl, sein Büro und zurück bringen. Einen Fahrstuhl hat seine Wohnung im vierten Stock nicht. Wie weite Teile der Stadt ist auch sein Wohnhaus im Westen der Hauptstadt nicht auf ein Leben im Rollstuhl vorbereitet.
Daqiq kennt die Angst vor dem Impfstoff und weiß um die mangelhafte Aufklärung auf dem Land. Sorgen, die auch islamische Autoritäten von Ägypten bis Indien mit religiösen Rechtsgutachten nicht zerstreuen können, in denen sie die Medizin loben. Eine Einschätzung, die auch der afghanische Mufti Ehsanul Haqq Hanafi teilt: „Der Impfstoff enthält nichts Verbotenes mit Blick auf die Scharia. Ich bin überzeugt davon, dass er notwendig ist und gebraucht wird.“ Doch ermunternde Worte aus Kabul oder Kairo erreichen das ländliche Afghanistan und Pakistan oft nicht. Und so warnen lokale Geistliche ihre Nachbarn weiter vor der Medizin und wiegeln sie so gegen Impfhelfer auf.
Mohammad Mohamidi, der Kämpfer
Dass der Kampf gegen Polio trotz dieser Probleme vorankommt, ist seit wenigen Monaten die Aufgabe von Mohammad Mohamidi. Unicefs neuer Polio Chief ist für die Überwachung der Impfkampagne in die Provinz Kandahar gekommen und heute in einem Wohnviertel der Kleinstadt Spin Boldak unterwegs, nahe der pakistanischen Grenze. Plötzlich lässt er seinen Fahrer anhalten, springt aus dem gepanzerten Geländewagen und läuft auf ein zufällig ausgewähltes Haus zu. Während sein verdutzter Fahrer noch versucht, den Wagen abzustellen, spricht Mohamidi bereits mit den Bewohnern. Seine Stichprobe ergibt: Die Notizen der lokalen Impfhelfer decken sich nicht mit dem Bericht der Familie. Zurück im Wagen seufzt Mohamidi: „Die Leute haben sich daran gewöhnt, zu versagen.“
Wäre der Kampf gegen Polio ein Krieg, wäre Mohamidi hochdekorierter General. Seit nahezu 30 Jahren jagt der Franzose den Virus, in Somalia, Jemen, Dschibuti, Südsudan, Angola, Tschad und Pakistan. Mehr als die Hälfte seines Lebens hat er der Polio gewidmet. Doch Mohamidi ist alarmiert: „Wir brauchen frisches Blut, nicht nur bei Unicef und der WHO, auch in der Regierung und bei den Geberländern. Jeder muss sich der Verantwortung stellen. Und Sicherheit ist keine Ausrede, wir haben Polio in ähnlich unsicheren oder noch schlimmeren Gegenden ausgerottet.“
Mohamidi hat seine eigene Theorie, warum der Kampf gegen Polio in Afghanistan zu scheitern droht: Er glaubt, dass sich die Verantwortlichen auf allen Ebenen in den letzten 30 Jahren zu gemütlich eingerichtet haben. Weder die schwierigen sanitären Verhältnisse noch religiös begründete Ängste, Drohungen der Taliban oder die Kämpfe zwischen Regierung und Aufständischen lässt er deshalb als Entschuldigung gelten.
„Den Geldhahn zudrehen, bis ein Plan kommt“
Mohamidis Forderung ist so drastisch wie seine Analyse: „Um den Kampf gegen Polio aufzunehmen, müssen wir den Geldhahn zudrehen, bis ein Plan auf denn Tisch kommt. Kein Geld mehr, wortwörtlich. Es muss eine Schockwelle für das Programm sein, ein Tsunami.“ Über 850 Millionen Euro wurden 2019 laut der Global Polio Eradication Initiative für den Kampf gegen die Krankheit ausgegeben. „Wir haben fast einhundert Mitarbeiter in Genf“, klagt Mohamidi. „Aber dort gibt es überhaupt kein Polio. Hier in Afghanistan haben wir 40 bis 50 Mitarbeiter in Provinzen, in denen Polio nicht mehr vorkommt.“
Die Kampagne, so der Kern seiner Kritik, nehme die Lebensrealität der Menschen nicht ernst. Der Kampf gegen Polio ist für Mohamidi eine Priorität der internationalen Gemeinschaft, keine afghanische. Im Süden des Landes, aber auch in anderen ländlichen Gebieten sterben Kinder an Mangelernährung und Durchfall, bei Feuergefechten und Anschlägen – sie leiden unter einem Mangel an sauberem Wasser, Elektrizität und Bildung. Schrecken, die anders als Kinderlähmung für viele afghanische Eltern täglich erfahrbare Realität sind.
Wie so viele Gebäude in Kabul versteckt sich auch das Gesundheitsministerium hinter hohen Mauern und schweren Panzertoren. Hier ist das Büro des National Emergency Operation Center for Polio Eradication untergebracht, das die Aktivitäten zur Poliobekämpfung koordiniert. Hedayatullah Stanekzai leitet das von der afghanischen Regierung gegründete Zentrum und empfängt Besucher an seinem schweren Schreibtisch sitzend. Auch Stanekzai sieht Versäumnisse im Kampf gegen Polio und ist besorgt: „Uns erwartet eine große Tragödie, wenn wir Polio nicht unter Kontrolle bekommen. Es wird mehr Fälle geben, mehr gelähmte Kinder.“
Die Verantwortung dafür sieht der Beamte aber weder bei sich noch bei der afghanischen Regierung: „Das Geld für die Impfungen kommt von der internationalen Gemeinschaft. Aber das geht ja nicht an die Regierung Afghanistans, sondern an Unicef und die WHO.“ Dann kritisiert er, wie zuvor auch Mohamidi, die hohen Gehälter ausländischer Experten, die Kosten für deren Sicherheit und eine Öffentlichkeitsarbeit, die er für überteuert und unnütz hält.
Diese Kritik kommt im UN-Hauptquartier nicht gut an. Dort, tief im Osten Kabuls, ist das Büro Aboubacar Kampos, des Unicef-Landeschefs, untergebracht. Kampo ist der Chef von Mohammad Mohamidi und kennt dessen Kritik am Polioprogramm gut. Den Vorwurf aus dem Gesundheitsministerium weist er allerdings zurück: „Wir regieren das Land ja nicht.“ Und schaue man sich an, welche Länder Polio erfolgreich besiegt hätten, dann stelle man fest, dass die dortigen Regierungen entschlossen gehandelt hätten.
Sayed Hamid Daqiq, erkrankte in seiner Kindheit an Polio
Und so sind sich afghanische Regierung und Unicef zwar einig, dass es dringenden Handlungsbedarf gibt, streiten aber darüber, wer die Schuld dafür trägt. Erwägungen, für die Mohamidi keine Geduld hat: „Wenn ich Afghanistan und Pakistan ansehe, erwarte ich keine guten Nachrichten. Niemand tut, was nötig wäre, um den Virus zu stoppen. Wir sollten uns um Kandahar nicht kümmern, als ginge es um Polio, sondern um Ebola.“ Nach drei Jahrzehnten im Dienst internationaler Hilfsorganisationen ist der Kampf gegen Polio für ihn ein persönlicher geworden. Und Afghanistan seine vielleicht letzte Prüfung.
Die Recherche des Autors in Afghanistan wurde mit einem Stipendium des European Journalism Centre unterstützt
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