Kinderbuch „Alle behindert“: „Was soll ICH hier?“
Fragen stellen ist ok. Horst Klein und Monika Osberghaus führen mit Hilfe von Geheimwissen und Mitmach-Anleitung an das Thema Behinderung heran.
Dem Klett Kinderbuch Verlag ist wieder ein großer Wurf gelungen. Das Buch „Alle behindert!“ geht bereits in die zweite Auflage und das vor der ersten Rezension. Tatsächlich ist der Verlag bekannt für seine etwas anderen, nicht dem Mainstream folgenden Kinderbücher. Nach großartigen Bilderbüchern über häusliche Gewalt, dem Leben im Gefängnis oder dem Vergleich des Kinderalltags in der BRD und DDR geht es nun also um Behinderungen.
Auf jeder Seite wird ein Kind mit Auffälligkeiten vorgestellt, indem kindlich unbedarfte Fragen gestellt werden. Da sich das Fragemuster auf jeder Seite wiederholt und die Antworten kurz sind, wirkt das Ganze wie ein Steckbrief. Annas Behinderung etwa ist Trisomie 21. Im Steckbrief werden nicht nur Antworten auf die Fragen „Wo kommt das her?“ oder „Geht das wieder weg?“ gegeben, sondern auch auf Fragen wie „Kann ich mit Anna spielen?“, „Wie gehe ich auf Anna zu?“ oder „Was lasse ich lieber?“.
Eine Überraschung und gleichzeitig große Stärke des Buches ist es, dass nicht zwischen angeborenen und sozialisierten Merkmalen unterschieden wird, so dass die gängige Vorstellung von Normalität schnell obsolet wird. Julien zum Beispiel ist ein Angeber. Das kommt in jeder Klasse mindestens einmal vor und geht vielleicht wieder weg. Doch wie geht man auf ihn zu, was lässt man lieber, kann man mit ihm spielen? Die Antworten verblüffen und amüsieren.
Passenderweise fragt Julien: „Ja schön und gut. Aber was soll ICH hier?“ Die Antwort muss warten, bis man zum Super-Trumpf des Buches auf der letzten Seite gelangt. Jede einzelne Behinderung wird im Weiteren zusätzlich nach ihren Nachteilen („Was ist daran einfach nur doof?“) und – das kommt unerwartet – Vorteilen befragt.
Horst Klein, Monika Osberghaus: „Alle behindert.“ Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2019, 40 Seiten, farbig, 14 Euro
„Welche Behinderung hast DU denn?“
Lenny, der Muskelschwäche hat, findet es zum Beispiel gut, dass er einen „coolen E-Rolli mit gut Tempo“ hat. Außerdem gibt es zu jeder Behinderung ein Geheimwissen und eine Mitmach-Level, die anzeigt, in welchem Maße die einzelnen Kinder mitspielen können. Am Ende des Buches findet sich eine Anleitung: Mithilfe eines Zahnstochers und einer vorgezeichneten Schablone soll man selbst die Braille-Schrift herstellen, um sie dann zu ertasten und zu merken, wie Blinde lesen.
Ein Rätsel allerdings bleibt: „Wie, du willst wissen, was da steht!? Frag einen Blinden!“ Auf der letzten Seite dann findet sich der Super-Trumpf: Ein leerer Steckbrief mit der Überschrift „DU!“ zum Ausfüllen. Der Auftrag lautet „Welche Behinderung hast DU denn? Raus mit der Sprache!“
Die Autoren Horst Klein und Monika Osberghaus haben sich zu Beginn des Buchprojekts mit behinderten Kindern und ihren Eltern getroffen, Informationen gesammelt und festgestellt, wie individuell eine Behinderung sein kann. Trotzdem haben sie ihren erfundenen Figuren Typisches angedichtet, um überhaupt erst einmal Neugier zu wecken für die vielfältigen Formen von Behinderungen.
Menschen mit Behinderung sind oft unsichtbar
Das Buch zeigt, dass es total okay ist, neugierig zu sein und Sachen zu fragen, die einen interessieren. Wahrscheinlich fällt das Kindern eh leichter als Erwachsenen mit ihrer Diskretion. Sofern man keine Behinderten im näheren privaten Umfeld hat oder mit ihnen arbeitet, sind sie ja auch gar nicht da. Falls man überhaupt mal einen behinderten Menschen sieht – begegnet würde sich zwar besser anhören, wäre aber eigentlich schon übertrieben –, reagiert man allzu leicht mit Mitleid.
Man traut sich nicht, richtig hinzuschauen, vielleicht aus Sorge, Kontakt aufnehmen zu müssen oder Zeit zu verlieren. Die eigene Unsicherheit führt dann zu einer Vermeidungsstrategie. Im eigenen Leben kommen Behinderte also nicht vor. Oder etwa doch?
Das Buch „Alle behindert!“ wagt es, diese Frage zu stellen und nimmt einem das Gefühl der Unsicherheit, weil die Betroffenen oftmals selbst erklären, was mit ihnen los ist. Gleichzeitig wird man tatsächlich neugierig. Diese Neugier wiederum kann man nur in Inklusionssituationen befriedigen. Und da haben Kinder eindeutig bessere Chancen als Erwachsene. Ein unverkrampftes und witziges Sachbuch über behinderte Kinder.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau