Kieler Szene: Lieber Kasse als Kneipen
In Kiel droht ein altes Stück Kneipenkultur zu schwinden, weil die Volksbank einen Altbau zwangsversteigern lassen möchte. Dabei hat der insolvente Besitzer bereits einen Käufer gefunden, der auf Erhalt setzen will.
Was die Volksbank vom Erhalt seines Hauses hielt, erfuhr Claus Jürgen Ruge auf plötzliche und sehr deutliche Weise. Ein großes Schild, mit vier Holzbalken in die bunte Fassade unter seiner Terrasse geschraubt, zeigt ihm seit August den Entwurf eines sechsstöckigen Neubaus: "Hier werden Stadtwohnungen und Gewerbeeinheiten nach Ihren Vorstellungen geplant", steht dort neben Bildern eines Glasbaus, gerahmt von computergenerierten Blumenkübeln.
In seinem Altbau in der Kieler Legienstraße, nur ein paar Schritte von der Kneipenmeile Bergstraße entfernt, führte Ruge fast dreißig Jahre das Restaurant "l'étage" im ersten Stock, mit Wintergarten zur Straße. Später am Abend öffnete seine Tanzbar "TamenT" auf derselben Etage. Der Laden war bekannt für die längsten Öffnungszeiten der Stadt. Heute heißt er "X-Club", Ruge hat den Raum vermietet. Genauso wie die dritte Bar in seinem Haus: Im Erdgeschoss residiert seit 2001 die Konzertkneipe "Schaubude".
Die Schaubude ist mittlerweile eine Institution, Ruge aber ist insolvent. Als die Fachhochschule in den 1990er Jahren von der gegenüberliegenden Straßenseite in einen anderen Stadtteil umzog, brachen ihm im létage die Umsätze ein - Euro-Umstellung und Nichtraucherschutzgesetz taten ihr übriges, sagt Ruge.
Im September wandte sich der Rechtsanwalt Helge Petersen an Ruges Insolvenzverwalter. Er bot 630.000 Euro für das renovierungsbedürftige Haus. Petersen möchte die obere Etage für seine Kanzlei ausbauen und die Kneipen als Kulturgut erhalten. Doch als der Insolvenzverwalter bei der Gläubigerin, der Kieler Volksbank, anfragte, reagierte sie zunächst nicht. Drei Monate lang.
Nun hat sie reagiert und fordert - inklusive Zinsen - etwa 700.000 Euro. Denn als das Schild kam, lief das Insolvenzverfahren schon über ein Jahr, die Schuld hatte zu Anfang bei knapp 550.000 Euro gelegen. Die heutige Forderung sei ein "horrender Preis", sagt Anwalt Petersen. Zumal eine Renovierung des Altbaus weitere 350.000 bis 500.000 Euro kosten würde. Petersen sagt, beim neuen Preis müsse er "streng wirtschaftlich" vorgehen. "Damit verliert das seinen sozialen Charakter."
Lohnen würde sich die Investition für spätere Besitzer von schlüsselfertigen Wohnungen und Büros eines Neubaus. Durch die Mieteinnahmen könnten sich auch noch höhere Kaufpreise rentieren - etwa solche, die bei einer Zwangsversteigerung zu Stande kommen könnten.
Petersen würde sich gerne mit der Volksbank an einen runden Tisch setzen. Doch auf seine Briefe und Anfragen habe er in den vergangenen Monaten meist keine und nie eine positive Antwort bekommen. Dafür wird der Altbau durch die Zinsen immer teurer - knapp 150 Euro pro Tag.
Seit Ende November haben fast 4.300 Menschen eine Petition an den Kieler Stadtrat unterzeichnet, initiiert vom Schaubude-Inhaber. Sie ruft dazu auf, das Vorgehen der Volksbank zu stoppen: "Das ist nicht im Interesse der Menschen, die hier leben!", steht dort, und an die Volksbank richtet sich die Bitte: "Hören Sie auf, die Zeit für sich spielen zu lassen! Gehen Sie auf das faire Angebot ein!" Eine ähnliche Facebook-Seite hat über 1.800 Unterstützer.
Auch die Mitglieder des Kieler Bauausschusses haben sich in ihrer letzten Sitzung für den Erhalt des Altbaus ausgesprochen. Sollte ein Abrissantrag gestellt werden, sagt Bürgermeister Peter Todeskino (Grüne), werde über eine Veränderungssperre nachgedacht, um das "Ensemble" in der Legienstraße zu schützen.
Denn im Sommer 2012 wird sich das alte Gelände der Fachhochschule wieder mit Studenten füllen. Die Muthesius-Kunsthochschule baut dort ihren neuen Campus, gegenüber von Ruges "l'étage" wird ein belebter Platz entstehen. Endlich wieder Laufkundschaft für ihn - ein schöner Ausblick aber auch aus "Stadtwohnungen und Gewerbeeinheiten".
"Wir verweisen auf die Zwangsversteigerung", sagt der Kieler Volksbank-Vorsitzende Carl-Christian Ehlers, der Rest sei unternehmerische Freiheit. Das Bild des neuen Wohnhauses an der alten Fassade sei ein Mittel gewesen, die Nachfrage zu überprüfen. Und die sei vorhanden, sagt Ehlers. Mit "vielen Anfragen älterer Leute, die dort gerne wohnen möchten." Dennoch habe die Volksbank "in keiner Weise Lust und Freude, selbst das Gebäude zu ersteigern."
Das erste Volksbank-Schild hängt heute nicht mehr über der Schaubude, es musste ersetzt werden. Auch dem Nachfolger fehlt die untere Hälfte, in Stücken liegt die im Schnee. Ehlers können die zornigen Reaktionen auf das Emblem seines Arbeitgebers aber künftig egal sein. Im Juli geht er in den Ruhestand. Vielleicht greift er dann seiner Frau unter die Arme: Sie leitet eine Baufirma.
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