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Kiek mol wedder in

Musiktheater in den „neuen Bundesländern“ (3)  ■ Von Frieder Reininghaus

Frieder Reininghaus setzt seine Tournee durch die Musiktheater der ehemaligen DDR fort: nach dem Landestheater Dessau (siehe taz vom 4. März) und einem Gespräch mit Harry Kupfer von der Komischen Oper Berlin (siehe taz vom 16. März) nun eine Zustandsbeschreibung mehrerer kleiner und großer Häuser.

Das vierköpfige Musikensemble des Mecklenburgischen Landestheaters in Parchim wurde in den Vorruhestand versetzt. Seit vergangenem Jahr ist das Unternehmen in der Kleinstadt an der Landstraße von Berlin nach Schwerin auf „Einspartenbetrieb“ umgestellt, bietet nurmehr Sprechtheater. Es hat mit Michael Muhr, zuvor Dramaturg in Oldenburg, einen „Westintendanten“ bekommen. „Das Theater im Westen existiert in einer satten, trägen, fetten Gesellschaft“, meint Muhr — als ob es im Umfeld seiner neuen Tätigkeiten keine Anzeichen von Bequemlichkeit gäbe. Aber er hat recht, wenn er auf die anders geartete Aufgabe in Mecklenburg verweist: „Das Chaos in den fünf neuen Bundesländern ist entsetzlich groß und wird noch größer werden. Theater hat in diesem Umgestaltungsprozeß eine Aufgabe: die Leute zu begleiten, die Realitäten zu spiegeln und zu kommentieren.“ Und zu mobilisieren, soweit das Theater dies überhaupt zu leisten vermag und bewerkstelligen will.

Mit einem großen Transparent zu Warten auf Godot wirbt Muhrs Ensemble an einer Autobahnbrücke. Schlicht und wenig ergreifend. Die Musiker werden den Weg zu einem „neuen Profil“ des Hauses, das sich dazu bekennt, „Theater in der ehemaligen DDR zu sein“, nicht mehr begleiten und bespiegeln. Sie haben aufgehört zu helfen, den Leuten in der Region das Gefühl zu vermitteln, „nicht nur verraten und verkauft zu sein“. Sie waren unhaltbar. Verschwanden sang- und klanglos.

Deutsch und bieder

„Raus aus dem Alltag, rein ins Theter“, steht auf einigen Bussen in Stralsund. Morgen gibt's den Freischütz. Da gehe er natürlich hin, sagt der freundliche ältere Herr gleich, den wir nach dem Weg fragen. Heute sei nur so eine amerikanische Komödie dran (Woody Allens Spiel's noch mal, Sam, wie bald festzustellen war). Nein, meint der alteingesessene Stralsunder, damit könne er nun gar nichts anfangen. Aber wenn die bekannten und beliebten Opern gegeben werden, dann fehle er nie. Neben dem Frei- ist das derzeit der Wildschütz, der Tannhäuser und immerhin auch dessen Parodie durch Nestroy, Die Keilerei auf der Wartburg. Das Opernprogramm hier an der Ostseeküste ist dezidiert bieder und deutsch gehalten, auf den Kleinstadtgeschmack abgestimmt. Da weiß der Alte, was er hat.

Auf solche treuen Freunde wie ihn, seine Frau und seine Schwägerin sind die Musiktheater im Norden der ehemaligen DDR ebenso angewiesen wie in Tühringen, Sachsen, Anhalt oder Brandenburg. Selbst in Berlin leiden die drei Opernhäuser mehr, als ihr Führungspersonal eingesteht, am Rückgang der Zuschauerzahlen. Der FDGB, der jahrzehntelang große Kartenkontingente unter den Werktätigen ausschüttete, ist von der Bildfläche verschwunden. Die „Kollektive“, die so gut wie zum Nulltarif die Reihen füllten, befinden sich im Stadium der Abwicklung. Nur einem Teil ihrer Mitglieder ist noch nach Operette zumute. Der Neu-Parchimer Michael Muhr hielt dem Besucherschwund mit einem von Spar-Politikern noch nicht gebrochenen Pioniergeist entgegen: „Mich interessiert die gesellschaftspolitische Aufgabe mehr als die Platzausnutzung.“

Uns freilich mag die künstlerische Qualität noch mehr interessieren als die gesellschaftspolitische Fürsorge, wiewohl nicht zu verkennen ist, daß Wechselwirkungen zwischen dem sozialen Umfeld und der ästhetischen Sprunghöhe (oder Falltiefe) von Theater bestehen. „Kiek mol wedder in“ — so appellieren das Volkstheater Rostock und die neueröffnete Esso-Station gleichlautend an die potentielle Kundschaft. Dabei sieht es derzeit für den Tankstellenpächter wohl günstiger aus als für die Betreiber des Theaters, dem das Volk den Rücken kehrt. Auch in Rostock wird der Freischütz präsentiert — zwischen Linie1 und Anatevka, Zauberflöte und Figaro, Aida und neuerdings Rigoletto. Der Musikzweig des Theaters vertraut auf den allerhärtesten Kern des Repertoires. So manche Inszenierung und die Mehrzahl der musikalischen Darbietungen bedeuten wohl auch für aussitzfähige Operngänger erhebliche Prüfsteine des Durchhaltevermögens. Ohne sichtbare Zeichen der Neuerung und Niveauhebung wird der nötige Zustrom neuer Publikumsschichten ausbleiben.

In Greifswald grüßt der Igel als Bräutigam vom Plakat und teilt sich die Gunst des Publikums mit Fidelio und Maskenball. Dieser Igel im viel zu großen Theaterkasten einer verlotterten Stadt stammt von Cesar Bresgen und aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, in der sein Schöpfer selbst in Österreich kein Amt in einer staatlichen Institution bekleiden konnte — gar zu offensichtlich war er als Nazi-Komponist hervorgetreten. Obwohl er sich, ohne jedes Zeichen des Gesinnungwandels gründlich um die Vertuschung seiner Vergangenheit bemühte, ließ sich die Erinnerung an seine Zulieferarbeit für die Heldengedenkfeiern der Nazi-Zeit mit Werken wie Totenfeier, Kantate vom Soldaten oder Du mußt an Deutschland glauben (1941) ebensowenig tilgen wie die Tatsache leugnen, daß er 1944 zur Eröffnung der Ausstellung Deutsche Künstler und die SS eine feierliche Bläserfanfare beigesteuert hat. Anderswo wurde Bresgens Igel still beerdigt. An der Nordostkante des angeschwollenen Bundesgebiets aber feiert er fröhliche Urständ. Daß er in deutscher Geschichtskontinuität als Erbe des DDR-Theaters auf die Jugend von 1991 kommt, kann nur jenen Typus von Naturschützern erbauen, deren Vorstellung von „Volkstümlichkeit“ in braunem Humus wurzelt.

Zurück in Schwerin, das über ein ausnehmend schönes Theater am großen freien Platz gegenüber dem Schloß und neben dem Museum verfügt. Angenehm lau der Frühlingsabend und voll der Musentempel: Mozarts Zauberflöte in einer noch recht frischen Inszenierung von Matthias Pohl. Die zu neuem Bürgerstolz erwachenden Schweriner strömen in ihr Theater (und die ebenfalls an der Kasse drängenden Lübecker und die aus dem Raum Hamburg Angereisten blieben deutlich in der Minderheit). Mit redlichem Enthusiasmus bestand das Sänger-Ensemble seine Aufgabe; die sich in guter Verfassung präsentierende Staatskapelle setzte zu den stimmlichen Mängeln einen angenehmen Kontrapunkt. In der einfachen und mit Kinderbildern spielenden Ausstattung von Lutz Kreisel entfaltete sich ein heiterer Mozart-Abend mit kleinen Delikatessen. Keine Verhandlung von Aufklärung und gesellschaftlich überhöhtem Kampf des Guten gegen die Mächte der Finsternis: eine demonstrativ entideologisierte Sichtweise des „Machwerks“. Die trifft, ganz offensichtlich, auf Zuspruch im Parkett und auf den Rängen.

...es bewegt sich

Zu den Betrieben, die sich am erkennbarsten aus eigener Kraft in Bewegung gesetzt haben und neues Profil zu entwickeln beginnen, gehört die Oper Leipzig. Seit einem Jahr leitet der aus Dresden stammende Komponist und Dirigent Udo Zimmermann das Riesenhaus am Augustus- Platz (wie der Karl-Marx-Platz neuerdings wieder heißt). „Das Wichtigste war die Überwindung der Gleichgültigkeit“, resümiert Zimmermann im Gespräch. „Die Infrastruktur der Stadt, die Frustration in den Gesichtern der Leute auf der Straße — alles andere als einfach. Aber zumindest hier im Opernhaus ist erreicht, daß es sich bewegt. Es stand. Aber jetzt bewegt es sich.“

Bereits im vergangenen Oktober wurde mit der Wiederaufführung von Ernst Kreneks Jonny spielt auf ein erstes Zeichen für eine neue Ära versucht — diese Oper war 63 Jahre zuvor an dieser Stelle uraufgeführt, dann von den Nazis verboten worden, und sie blieb auch in vier SED- Jahrzehnten geächtet, weil Kreneks biographische und künstlerische Entwicklung sich nicht in das offizielle Schema des „Antifaschismus“ fügte. Zum Auftakt der Frühjahrsmesse gab es eine Neuinszenierung von Ferruccio Busonis Doktor Faust: der Oberspielleiter der Kölner Oper, Willy Decker, war als Regisseur verpflichtet worden, sollte etwas westlichen Pep in die Sache bringen. Und Philips erwarb sich mit 70.000 Mark Werberechte im Zusammenhang mit dieser Produktion — sehr preisgünstig. Mit Mäzenatentum, gar einer selbstlosen Unterstützung für ein hilfsbedürftiges Kulturinstitut hat das freilich nichts zu tun.

Busonis unvollendete Faust-Oper — er starb 1924 über der vertrackten Partitur — wurde von Philipp Jarnach für die Uraufführung 1925 vervollständigt, zuletzt von Antony Beaumont nochmals ergänzt und überarbeitet. Trotz einiger Striche bot die Oper Leipzig eine gut vierstündige Fassung, einen großen Bogen kontrastreicher Musik, den das Gewandhausorchester unter der Leitung von Georg Schmöhe auf akzeptable Weise durchmaß (von internationaler Hochform scheint die traditionsreiche Kapelle allerdings ein ganzes Stück entfernt). Busoni hatte sich bei der Vertonung auf die älteren Volksbuch-Versionen der Faust- Sage gestützt und den ganzen Goethe ausgeklammert; nun wurde der junge Thomas Möbes (der aus dem Leipziger Ensemble kurzfristig für den erkrankten Protagonisten einsprang) zum bemerkenswerten Interpreten sowohl des alten Gelehrten wie des verjüngten Abenteurers in Italien. Mit der reichen Modulationsfähigkeit seiner Stimme überzeugte Möbes weit eher als der zum Krähen neigende Mephisto Horst Hiestermann.

Leibdsch lob ich mir

Die Faust-Inszenierung der Oper Leipzig war kein Geniestreich, stellt aber ein vorzeigbares Resultat der Bemühung um das Stück dar. In kahlem schwarzen Raum zunächst der besessen studierende Faust. An die Wände sind Unmengen von Formeln gekritzelt. Das Mittel ist probat. An zentraler Stelle die Normaluhr, die von Akt zu Akt einige Zahlen verliert und schließlich kürettiert ist. Die Uhrenmetapher für die bemessene Zeit des Menschen — nur zu geläufig aus den Inszeneriungen Achim Freyers und Herbert Wernickes. Im übrigen ein paar Anregungen aus den Bühnenbildern von Gottfried Pilz — aber die sind wohl derzeit die entschieden modernen Lösungen und daher zurecht Vorbilder. Daß ein Opernhaus wie das in Leipzig nun an eine im Westen ganz selbstverständliche Entwicklung Anschluß findet, erscheint gut und nützlich. Dabei wäre ihm zu wünschen, daß es sich nicht mit zweitem Aufguß begnügen muß, sondern das Authentische zugeführt bekommt.

Bei einem Jahresetat von rund 70 Millionen Mark müßte das auch zu bewerkstelligen sein. Freilich wird mit dieser stattlichen Summe nicht nur der noch immer übers Maß geschwollene Betrieb im Stadtzentrum gegenüber dem Gewandhaus beschleunigt, überhaupt wieder richtig in Fahrt gebracht, sondern auch die Musikalische Komödie in der Dreilindenstraße saniert und betrieben. Das Operettentheater in einem heruntergekommenen Kleinbürgerviertel benötigt dringend 20 Millionen extra, damit es den Mindestanforderungen an Bühnentechnik und Sicherheit entspricht. Trotz Bauschutt und dicker Staubschicht erfreut sich dieses Theaterchen in der Weststadt aber des regen Zuspruchs der Anwohner. Noch tragen sie es. Im Bewußtsein: „Denn es ist unser.“

Überhaupt geht es um kulturelle Identität in dieser Stadt. „Mein Leipzig lob ich mir“, verkündet — nach der Väter Weise — die Leuchtreklame von einem jener Plattenbetonklötze herab, denen man lieber heute als morgen die Abrißbirne an die Fassade wünscht. Ihr Leipzig wollen sie gelobt wissen, in dem gegenwärtig fast überall eher der gute Wille zu loben wäre als der Zustand von Stadt und Leuten. Der immerhin zeichnet sich ab. Und an allen Ecken und Enden wird die Rundumerneuerung angekurbelt, werden eilig neue Plastikfenster in alte Bausubstanz gedonnert, propere Läden in die Parterre-Etagen gestemmt, bunte Schilder vor graue Wände geschraubt. Neben den Obstständen, den fliegenden Eishändlern und dem Pilz-Topf in der Fußgängerzone rund um „Auerbachs Keller“ prangen die Plakate der Oper, die in einer ganz und gar nicht mehr realsozialistisch gefärbten Bildsprache den Anbruch einer neuen Ära verkünden: sichtbarste Zeichen eben des „neuen Profils“, um das sich der in den SED-Kontext bislang so straff eingebundene Kulturbetrieb erfolgreich bemüht.

Udo Zimmermann, der sich früh von der Doktrin dieses Betriebs ab- und westlichen Kompositionsweisen zugewandt hat, sammelte — vor allem in Bonn — West-Erfahrungen. Die kommen ihm jetzt bei der Sanierung der Oper Leipzig zugute. „Die Überwindung der Gleichgültigkeit ist das Problem, mit dem wir alle zu tun haben. Da nehme ich mich nicht aus, bin ja auch ein ehemaliger DDR- Bürger. Wir haben alle das Problem der Abwartehaltung — ,mal sehen, was kommt‘ — zumindest gehabt. ,Hilfe zur Selbsthilfe‘ ist für uns freilich auch kein gutes Stichwort, weil es nicht reicht. Auch bei der Kunst: wenn wir stehen und zuschauen, was passiert, wird uns niemand helfen. Jetzt müssen wir uns darum kümmern, daß das hier in Leipzig kein austauschbares Musiktheater wird, sondern einen unverwechselbaren Kurs bekommt. Ob das erreicht wird oder ob ich gescheitert bin, das läßt sich erst in zwei Jahren sehen.“

Das ist eine ehrgeizig kurze Frist, selbst für einen so umtriebigen und ungeduldigen, ehrgeizigen und tatendurstigen Intendanten. In zwei Jahren also sprechen wir uns wieder. Und dann wird deutlicher sein, wohin Pioniere wie er das Kulturleben in Sachsen gebracht haben.

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