Kerstin Finkelstein Wir retten die Welt: Gravelbikes und Lastenräder, aber noch kein Heuband 2.0
Meine erste Erfahrung mit Fahrradinfrastruktur machte ich mit acht Jahren. Bis dahin hatte meine Verkehrsaufmerksamkeit vor allem den Kühen unseres Nachbarn gegolten. Morgens gingen sie an der Einfahrt der Eltern vorbei von rechts Richtung Wiese, am Nachmittag von links wieder zurück zum Stall. Ein vom Bauern gespanntes Heuband vor der Einfahrt sicherte jeweils den Kuhvorrang ab. Zur Schule fuhr ich allein mit dem Rad und musste unterwegs eine Hauptstraße überqueren, auf der pro Stunde etwa zwei Trecker und vier Autos in jede Richtung unterwegs waren.
Dann machten wir einen Familienausflug nach Hamburg. Ich starrte aus der Seitenscheibe auf die unfassbaren Massen an Autos, Menschen und hohen Häusern. Ich stieg aus – und wurde von einem Radfahrer überfahren. Wir stürzten beide. Während ich auf meine Schürfwunden pustete, entschuldigte sich meine Mutter bei dem jungen Radler – ich hatte offenbar den Radweg übersehen. Das also war ein Fahrradweg: ein knapp halb Meter breiter Asphaltstreifen ohne Begrenzung zwischen parkenden Autos und Fußgängerbereich.
Ist nun schon etwas her. Kühe gibt es im dörflichen Straßenraum heute kaum noch zu sehen. Dafür sind aber mehr als doppelt so viele Räder unterwegs, die sich auch technisch enorm entwickelt haben: Mehr als die Hälfte aller im vergangenen Jahr verkauften Bikes haben einen Motor und sind so spezialisiert, dass quasi jede und jeder das passende Rad finden kann – vom stylischen Singlespeed, also einem Rad mit nur einem Gang, bis zum Familienlastenrad, vom sportlichen und geländegängigen Gravelbike bis zum Dreirad. Die Umsätze der Fahrradbranche haben sich dank Corona, aber auch wegen der gehobenen Standards in den vergangenen Jahren vervierfacht.
Nur die Radinfrastruktur erinnert mich in ihrer Qualität an mein Kindheitserlebnis. Auf meinem Weg zum Büro fahre ich unter anderem auf auf die Fahrbahn gepinselten gestrichelten Radwegstreifen, die viele Autofahrer zum Halten, Einordnen oder Überholen einladen. Ich bin auf einem gemeinsamen Fuß- und Radweg unterwegs, wo das Reisetempo von flanierenden Touristen bestimmt wird, und ich nehme eine sogenannte Fahrradstraße, auf der alleine gut die Hälfte der Verkehrsfläche von abgestellten Pkw blockiert wird. Ein Kind würde ich weder zu Fuß noch per Rad guten Gefühls allein auf die Strecke schicken.
Doch Rettung naht: Das Bundesverkehrsministerium feiert aktuell auf Instagram einen KI-basierten Anstecker, mit dem „Kinder in Echtzeit vor potenziellen Gefahrenstellen gewarnt werden“. Die Bewegungsdaten würden aufgezeichnet, „um Kommunen bei der kindergerechten Verkehrsplanung zu unterstützen“. Moment: Waren Kommunen nicht diese politischen Akteure, die seit Langem die Möglichkeit fordern, Tempo 30 einzuführen? Und sitzen dort nicht sogar findige Köpfe, die nur anhand von HI (herkömmlicher Intelligenz) herausfinden, wo Schulen und Spielplätze sind? Mein Tipp ans Verkehrsministerium: Autofahrende in Echtzeit vor potenziellen Fußgängern und Radfahrern warnen – indem deren Flächen räumlich getrennt werden. Einen Projektnamen hätte ich schon: Heuband 2.0.
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