: Keiner schaut nach Afrika
Gisela Schneider wirft so schnell nichts aus der Bahn. Sie hat als Ärztin in Uganda gearbeitet, zu Aids, HIV und Malaria geforscht. Aber die Folgen der Corona-Krise in Teilen Afrikas lassen ihr keine Ruhe. Auch, weil dort gerade kaum einer hinschaut. Zwei schlaflose Nächte hatte die Direktorin des Deutschen Instituts für Ärztliche Mission (Difäm) vor unserem Gespräch.
Interview von Rainer Lang↓
Frau Schneider, was macht Ihnen so große Sorgen?
Jetzt wo die ganze Welt auf die Corona-Pandemie fokussiert ist, nehmen die Vertreibungen und die Gewalt im Ostkongo, wo wir arbeiten, ganz neue Ausmaße an. Rund 400.000 Binnenflüchtlinge in ein paar Monaten in der Ituri-Region zeigen das ganze Ausmaß. Mich schockiert die ungeheure Brutalität, mit der vorgegangen wird. Uns erreichen Berichte über sehr große Grausamkeiten, die mit einem normalen Konflikt einfach nicht mehr zu erklären sind. Unser Notfallprogramm für die Region haben wir bereits achtmal verlängert.
Sind Ihre lokalen Partner vor Ort auch betroffen?
Sie erleben die Gewalt täglich mit und versuchen, die Vertriebenen zu unterstützen. Seit Jahren arbeitet Difäm Weltweit mit Denis Mukwege zusammen, der 2018 für sein Engagement den Friedensnobelpreis erhalten hat. Er operiert Frauen, die Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind und dadurch schwere körperliche, aber auch seelische Verletzungen erlitten haben. Vergewaltigungen werden im Ostkongo systematisch als Kriegswaffe eingesetzt. Denis Mukwege hat in den vergangenen Monaten auch in der nationalen Koordination der Corona-Bekämpfung mitgewirkt und an seinem Krankenhaus die Versorgung von Schwerkranken eingerichtet.
Hier erfährt man so gut wie nichts von diesen Vorgängen?
Ja, all das ist in Zeiten von Corona weit in den Hintergrund gerückt. International nimmt kaum jemand die Vorgänge im Kongo wahr. Schon bei seinem Besuch in Deutschland 2019, in dessen Rahmen Denis Mukwege auch von Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann empfangen wurde, hat der Friedensnobelpreisträger einen dramatischen Appell an die Bundesregierung gerichtet, sich für ein Ende der Gewalt im Ostkongo einzusetzen. Das scheint niemanden mehr zu interessieren. Wie es scheint, kann der Kampf um die Rohstoffe, wie Coltan für die Mobiltelefone oder auch Kobalt, ungestört weitergeführt werden. Für die Betroffenen, die um ihr Leben fürchten und in existenziellen Nöten sind, wirkt aus dieser Perspektive die Bedrohung durch Corona sehr klein.
Corona scheint weiter das alles bestimmende Thema zu sein.
Dass Ostafrika seit Monaten eine Heuschreckenplage erlebt und die Menschen in den betroffenen Gebieten von Hunger bedroht sind, interessiert angesichts von Corona leider kaum jemanden. Es ist eine Katastrophe von biblischem Ausmaß. Sie verdient jedoch unsere Aufmerksamkeit. Die Menschen sind auf Hilfe angewiesen.
Wie beurteilen sie die Bedrohung der Menschen dort durch Sars-Cov-2?
Das Virus breitet sich auch in Afrika aus. Inzwischen werden von 1,2 Milliarden Menschen 945.000 Infizierte gezählt. Aber die Auswirkungen werden anders sein als in Europa. Denn die Bevölkerung ist jünger. Mehr als 50 Prozent der Afrikaner sind unter 25, nur rund sechs Prozent sind über 65 Jahre alt. Damit ist die Risikogruppe der älteren Menschen viel kleiner als bei uns. Gleichzeitig leben viele Menschen vom informellen Sektor und Kleinhandel. All das ist zurzeit kaum möglich und führt zu zunehmender Armut.
Was können Sie als Organisation tun?
Wir können unsere Partner nicht mehr wie in der Ebola-Krise 2014 vor Ort unterstützen. Dabei brauchen sie uns in den Zeiten der Pandemie besonders. Jetzt zeigt sich, wie wichtig webbasiertes Lernen ist. So können wir Partnerschaft über Grenzen hinweg leben, auch wenn derzeit keine Reisen möglich sind. Lokal in Tübingen sind unsere Erfahrungen in den Aufbau einer Corona-Ambulanz eingeflossen.
Sie leisten auch finanzielle Hilfe?
Ja. Beispielsweise für die Aufklärung, die lokale Herstellung von Desinfektionsmitteln, die Verbesserung der klinischen Versorgung von Schwerkranken und eine Verbesserung der lokalen Strukturen, die hoffentlich über die aktuelle Notlage hinaus wirken. Um schnell und unbürokratisch helfen zu können, haben wir einen Corona-Fonds eingerichtet.
Inwieweit ist die Behandlung von Infizierten überhaupt möglich?
Die Behandlung beginnt mit der Identifikation der PatientInnen, der Isolierung und einer guten Heimversorgung. Dann sollte die Versorgung in den Krankenhäusern verbessert werden. Dabei kann schon der Zugang zu Sauerstoff das Überleben eines Patienten sichern. Nur in ganz wenigen Kliniken gibt es Beatmungsgeräte. Entsprechend wenig Erfahrung gibt es mit Langzeitbeatmungen.
Das heißt, dass Infizierte mit schwerem Verlauf todgeweiht sind?
Ja, es wird eine Gruppe von Menschen geben, die nicht versorgt werden können. Das gehört in manchen Teilen Afrikas leider zum Alltag. Diese Bedrohung gibt es nicht erst seit Corona. Es sterben viele Menschen in jüngerem Alter, weil nach einem akuten Nierenversagen keine Dialyse möglich ist oder kaum eine Klinik einen Herzinfarkt behandeln kann. Im Kampf gegen das Corona-Virus wird das Grundproblem deutlich – schwache Gesundheitssysteme. Man darf nicht nur das Virus bekämpfen, sondern muss das Gesundheitssystem als Ganzes stärken, damit es auch gegen Epidemien gewappnet ist.
Was tun Sie konkret, um dieses Ziel zu erreichen?
Im April galt ja ein Exportverbot für Masken und Schutzkleidung. Ich bin sehr froh, dass wir inzwischen Schutzkleidung und Geräte zur Sauerstoffkonzentration und anderes Hilfsmaterial im Wert von 500.000 Euro auf den Weg bringen können, dank der Unterstützung von Brot für die Welt. Aber es ist viel mehr nötig. Im Kongo unterstützt uns Brot für die Welt auch beim Aufbau einer Intensivstation und eines PCR-Testlabors in Bukavu, weil es viel zu wenig Testkapazitäten gibt und Gesundheitspersonal in der Versorgung der schwerkranken Fälle geschult werden muss.
Wie gehen die Menschen denn mit der Situation um?
Die Menschen zeichnet eine hohe Resilienz aus. Viele sagen: „Wir haben Ebola überstanden, jetzt überstehen wir auch Corona.“ Die Sterblichkeit bei einer Corona-Infektion ist ja viel geringer als bei Ebola. In Slums ist das Abstandhalten ohnehin kaum möglich. Man kann froh sein, wenn es überhaupt ausreichend Möglichkeiten gibt, sich die Hände zu waschen. Unsere Partner machen sich aber noch ganz andere Sorgen …
Was sind das für Sorgen?
Es geht um die Versorgung mit Medikamenten. Internationale Lieferketten sind unterbrochen worden. Die Menschen sind abhängig von Medikamenten aus China und Indien. Überhaupt sind es vor allem die indirekten Folgen von Corona, die Afrika zu schaffen machen. Beispielsweise gibt es dort keine staatliche Unterstützung für Arbeitslose.
Aber die Länder haben auch strenge Maßnahmen ergriffen?
Viele Länder haben strikte Lockdowns angeordnet, als die Epidemie in Europa begann. Grenzen und Flughäfen wurden geschlossen. Als zum Beispiel die Grenze zwischen Ruanda und dem Kongo geschlossen wurde, verloren viele Menschen von einem Tag auf den anderen die Möglichkeit zu arbeiten, Güter zu verkaufen und sich das Überleben zu sichern. Am Ende werden mehr Menschen in Folge von Corona an Hunger und Armut leiden und sterben als direkt an der Krankheit. Weltweit leiden die Ärmsten am meisten.
Seit über 100 Jahren verbessert das Difäm von Tübingen aus die Gesundheitsversorgung in wirtschaftlich armen Ländern, besonders für benachteiligte Menschen. Der Verein ist Träger der Tropenklinik Paul-Lechler-Krankenhaus in Tübingen und der Akademie für Globale Gesundheit und Entwicklung (AGGE). Das Institut engagiert sich im Aktionsbündnis gegen Aids und ist Mitglied im Diakonischen Werk Württemberg.
„Corona hat Bukavu betroffen. Viele Menschen haben sich infiziert und sind erkrankt. Aufgrund der Schwäche des Gesundheitssystems konnte nur für wenige Patienten eine Diagnose erstellt werden. Wir (das Panzi Hospital) sind jedoch in der Lage gewesen, schwerkranke Patienten zu versorgen. Wir wollen, dass das Gesundheitssystem gestärkt wird – als Lehre aus dieser Epidemie. Während die Welt auf Corona konzentriert ist, erleben wir immer noch viel Gewalt, insbesondere sexuelle Gewalt gegen Frauen. Der Kampf für Gerechtigkeit und Frauenrechte in der Demokratischen Republik Kongo muss fortgesetzt werden.“
Seit 1999 leitet Denis Mukwege das Panzi-Krankenhaus in der ostkongolesischen Stadt Bukavu. Für seinen Einsatz für vergewaltigte Frauen wurde Mukwege mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet – als erster Arzt nach Albert Schweitzer (1952). Denis Mukwege war 2019 auf Einladung des Difäm zu Besuch in Deutschland. Dabei traf er sich auch mit Winfried Kretschmann.
Bei Vorträgen in Tübingen und Stuttgart rief er zur Solidarität auf. Wenn Verbraucher ihre Marktmacht entsprechend einsetzten, würden Unternehmen sich auf faire Produktions- und Handelsketten besinnen. Der Verzicht auf E-Mobilität oder Handys sei nicht der richtige Weg. Mukwege fordert „saubere Mobilität und saubere Handys durch saubere Rohstoffe“ ohne Umweltverwüstungen, Gewalt und Versklavung von Frauen und Kindern. „Und wenn die Produktion von Batterien in Europa für Euch zu teuer ist, dann produziert sie doch bei uns. Es gibt genügend junge Menschen, die das können. Und dann denken sie auch nicht mehr an Migration nach Europa.“ (lang)
Die Bevölkerung leidet. Seit mehr als zwei Jahrzehnten wird im Osten der Demokratischen Republik Kongo gekämpft, sechs Millionen Menschen sind dem Konflikt zum Opfer gefallen, 4,5 Millionen vertrieben worden. Es geht um Bodenschätze, auch um Gold und Diamanten. Um diese Ressourcen so billig wie möglich abzubauen, wird die Bevölkerung systematisch eingeschüchtert – vor allem durch die Vergewaltigung der Frauen und Mädchen. Hunderttausende sind auf bestialische Weise ermordet worden. Kaum jemand hat eine genaue Übersicht über die vielen Rebellengruppen, die Minen kontrollieren und der Bevölkerung Gräuel antun. Laut Difäm sind sie seit zwei Jahren in der Provinz Ituri im Ostkongo aktiv. Ein Ende von Krieg und Vertreibung ist nicht in Sicht. (lang)
Gemeinsam für freie Presse
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen