■ III. Wahl: Keine Zugeständnisse
Was läuft eigentlich in den Dritten Programmen zur Primetime? Zum Beispiel:
„100 Jahre Dortmund-Ems-Kanal“, Freitag, 20.15 Uhr, N3
Am Anfang läuft ein Frachtschiff ein. Dann geht ein Lotsenboot längsseits, und der Lotse wechselt vom Boot aufs Schiff. „Zum Glück ist die See heute ruhig“, wird gesagt, aber das ist eine fromme Lüge.
Über mittelschweren Seegang wäre niemand unglücklich gewesen. Der Lotse hätte mit einer akrobatischen Einlage glänzen können, der Kameramann hätte etwas Spektakuläres zu filmen gehabt, und das Fernsehpublikum hätte gehofft, dass der Lotse ins Wasser fällt.
Doch in dem Filmbeitrag zum 100. Geburtstag des Dortmund-Ems-Kanals werden keine Zugeständnisse an die niederen Instinkte des Publikums und die RTL-Ästhetik gemacht. Zwar ist andeutungsweise von Rostfraß und Kesselexplosionen die Rede, und es kommen sogar Szenen einer Verfolgungsjgad vor, aber das wasserpolizeilich verfolgte Boot hatte die auf dem Dortmund-Ems-Kanal zulässige Höchstgeschwindigkeit von zwölf Stundenkilometern nur sehr mäßig überschritten.
Die Reportage trägt Züge einer Meditation. Man erfährt, dass der Hobbyfotograf Berthold Socha dem „Freizeitwert“ des Kanals „besondere Bedeutung“ zumesse, dass die Kanalufer Insekten und Pflanzen wertvollen Lebensraum böten und dass auch die Sportart Rudern auf dem Kanal Tradition habe. Dazu sieht man Reiher in Zeitlupe, Schwäne, Schafe, Schilf, gemächlich auf Knöpfe drückende Schleusenwärter, dahinziehende Binnenschiffe, den sanftmütigen Bordhund Fiete und zum Schluß ein Meppener Orchester, das am Kanalufer Georg Friedrich Händels „Wassermusik“ darbietet.
Und die Bilanz lautet: „Vielleicht ist es ja die Faszination des Wassers selbst, die die Menschen immer wieder in ihren Bann zieht.“ Als die Bilder laufen lernten, wäre so etwas als „Vorfilm“ im Kino gezeigt worden. Heute läuft es unter Ausschluss der Öffentlichkeit im Dritten. Immerhin, es läuft noch.
Gerd Henschel
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