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Keine Ruhe

Maßnahmen zur Verkehrs­beruhigung sorgen deutschlandweit für Kontroversen. Berlin setzt auch hier noch eins drauf und führt die Debatten, als stünde der Weltuntergang bevor. Besichtigung einer Kampfzone im Bezirk Lichtenberg

Ein einzelner Poller kann beruhigend wirken: das gilt auch in der Stadthaus­straße in Berlin-Lichtenberg, wenigstens für den Verkehr

Aus Berlin Rainer Rutz (Text) und Sebastian Wells (Foto)

Renate Müller ist schwer zu bremsen. Für Politik hat sie sich ihr Leben lang kaum interessiert.„Bis dieses Scheißding aufgestellt wurde“, schimpft die 68-jährige Geschäftsführerin eines Handels mit Motorgeräten im Berliner Bezirk Lichtenberg. Das Scheißding – das ist ein rundlicher, rot-weiß gestreifter Poller auf der Stadthausstraße unter einer S-Bahnbrücke, direkt an der Ein- und Ausfahrt ihres kleinen Betriebs. Und er ist Müllers Endgegner. Die energische Händlerin mit Motorsägen, Häckslern und Mäh­robotern sagt bei einem Gespräch in ihrem Geschäft: „Wir schieben hier richtig Frust. Der Poller muss weg.“

Aufgestellt wurde der einen Meter hohe Metallpfosten nebst gestreifter Absperrbaken links und rechts im Dezember 2023 nach einem Mehrheitsbeschluss von Linken, Grünen und SPD im Lichtenberger Bezirksparlament. Der einzige Zweck des Mobiliars: den motorisierten Durchgangsverkehr aus dem hinter der Bahn­brücke liegenden Viertel rund um die Kaskelstraße herauszuhalten. Das immerhin ist gelungen.

Gelungen ist dem kleinen Ding unter der Brücke allerdings auch, dass sich inzwischen nicht nur die Lichtenberger Bezirkspolitik heftig um seine Existenzberechtigung streitet. Auch das Berliner Landes­parlament durfte sich schon mit ihm beschäftigen. Dabei ist er die einzige nennenswerte Verkehrsberuhigungsmaßnahme, die in dem von einem CDU-Bürgermeister regierten Ostberliner Außenbezirk mit seinen rund 300.000 Ein­woh­ne­r:in­nen in den vergangenen Jahren umgesetzt wurde.

In den Grünen-dominierten Innenstadtbezirken Friedrichshain-Kreuzberg oder Mitte ist man in dieser Hinsicht bereits wesentlich weiter. Die Pol­l­ergeg­ne­r:in­nen beruhigt das wenig. Sie sehen – eigentlich überall in Berlin, aber jetzt auch im einst so autofreundlichen Lichtenberger Kaskelkiez – „grünen Verbotsirrsinn“ am Werk.

Der Kaskelkiez ist ein durchsaniertes, kleines Gründerzeitquartier, umzingelt von Bahntrassen. Unmittelbar westlich davon beginnt bereits Friedrichshain-Kreuzberg, wie dort kommen bei Wahlen die Grünen und die Linke zusammen verlässlich auf weit über 50 Prozent. Es gibt einige Gewerbetreibende, gerade mal 4.200 Bewohner:innen, extrem hohe Mieten – und anders als in den Hauptstraßen drumherum eben kaum Autoverkehr.

Das war bis vor eineinhalb Jahren anders. Tausende Pkw und Lkw rumpelten vor der Aufstellung des Pollers Tag für Tag durch die Stadthausstraße und weiter durch den Kaskelkiez über Kopfsteinpflaster, um von einer viel befahrenen Hauptstraße zur nächsten eine Abkürzung einzulegen. Dann kam der Poller. Seither ist Ruhe in der Durchgangsverkehrskiste.

Die Geg­ne­r:in­nen des Pfostens nennen es Totenruhe. Überhaupt sei das mit dem massiven Durchgangsverkehr alles übertrieben.

Sicher, den hätte es auch gegeben. „Aber nicht so überbordend, dass es eine solch krasse Maßnahme gerechtfertigt hätte“, sagt Janette Menzel. Die 48-jährige Anwohnerin hat zusammen mit Renate Müller und anderen im vergangenen Jahr den Anti-Poller-Verein „Verkehrsberuhigung mit Augenmaß“ ins Leben gerufen. 15 Mitglieder hat der Verein, rund 30 Unterstützer:innen, Listen mit über 4.000 Unterschriften gegen den Poller haben sie jetzt dem Bezirksbürgermeister in die Hand gedrückt. Janette Menzel findet, Bodenschwellen oder Verengungen an den Straßenkreuzungen seien weitaus sinnvoller.

Menzel und der Gerätehändlerin Renate Müller geht es vor allem um die wenigen Gewerbe­treibenden, die der Kiez noch hat. „Meine Firma ist jetzt schon fast tot“, sagt Müller. Seit der Einrichtung des Pollers müssten ihre Kun­d:in­nen Umwege in Kauf nehmen. „Die kommen doch nicht mit dem Lastenrad, um hier schwere Geräte abzuholen.“ Aber das interessiere die zuständige Stadträtin des Bezirks nicht. „Sie will ja hier mitten in der Stadt ein Dorf machen.“

Die so Angesprochene kennt die Vorwürfe. Filiz Keküllüoğlu von den Grünen verantwortet den Bereich Umwelt und Verkehr im Rathaus von Lichtenberg seit gut zwei Jahren – und sie steht fest hinter der von ihrer Verwaltung durchgesetzten Maßnahme. Die Aufenthaltsqualität habe sich merklich verbessert, es gebe weniger Lärm und Abgase, die Schulwege seien sicherer geworden. „Die Rückmeldungen aus dem Kaskelkiez sind unterschiedlich. Es gibt jene, die sich über den reduzierten Durchgangsverkehr sehr freuen. Dann gibt es natürlich einige, die sich über den Poller beschweren“, sagt Keküllüoğlu. Letztlich seien aber alle Hauseingänge im Kiez weiterhin mit dem Auto erreichbar, halt nur nicht mehr über die Stadthausstraße. „Das war von Anfang an so und das bleibt so.“

Bezirksstadträtin Keküllüoğlu bekommt gleichwohl von mehreren Seiten Gegenwind. Der CDU-Bürgermeister von Lichtenberg gibt sich zwar neutral. Im Bezirksparlament geriert sich seine Partei indes als Speerspitze der Pol­l­ergeg­ne­r:in­nen, unterstützt von AfD und der Wagenknecht-Partei BSW. Da ist auf der anderen Seite aber auch die Bür­ge­r:in­nen­in­itia­ti­ve Kaskel-Kiezblock, denen der eine Poller nicht weit genug geht. Die Ini­tiative erinnert regelmäßig daran, dass das Bezirksparlament ursprünglich ein umfassendes Gesamtkonzept für das Viertel beschlossen hatte – einen sogenannten Kiezblock.

Filiz Keküllüoğlu lobt die Initiative. Auf die geforderte „große“ Verkehrsberuhigung angesprochen, muss sie trotzdem einmal tief durchatmen. „Schauen Sie sich doch um“, sagt sie bei einem Spaziergang durch den Kaskelkiez. Das Besondere an diesem Viertel sei doch, dass es von allen Seiten von Bahntrassen umgeben ist. „Das ist wirklich toll. In anderen Kiezen müssten weit mehr Maßnahmen umgesetzt werden, um das zu erreichen, was wir hier bereits mit einer einzigen Maßnahme erreicht haben.“ Das bestätige ihr auch die Kiezblock-Initiative.

Ein Poller ist noch kein Kiezblock

Diagonalsperren, gegenläufige Einbahnstraßen, Spielstraßen, Parklets, Blumenkübel: Ein Kiezblock ist tatsächlich mehr als ein einzelner Poller. Auch im Lichtenberger Kaskelkiez gibt es ein Parklet. In einer Straße wurde zudem eine Einbahnstraßenregelung eingeführt, die aber häufig ignoriert wird. Definitorisch streng genommen bleibt die Lösung für das Viertel trotzdem zunächst mal nur eine kiezblockartige Anmutung. Was der Aufregung darum freilich keinen Abbruch tut.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es in Berlin keinen Unterschied mehr macht, ob irgendwo ein kleiner Poller aufgestellt wird oder – wie in Friedrichshain-Kreuzberg oder Mitte – sehr viel großflächigere Maßnahmen gegen den Durchgangsverkehr in Wohnvierteln ergriffen werden. Der große öffentliche Theaterdonner um Kiezblocks oder Ähnliches ist inzwischen überall stets garantiert.

Schützenhilfe erhalten die Kiez­block­geg­ne­r:in­nen von der schwarz-roten Berliner Landesregierung, die 2023 das Ruder übernommen hat. Namentlich die CDU des Regierenden Bürgermeisters Kai Wegner schießt sich seither ein auf die vom Vorgängersenat aus SPD, Grünen und Linken unternommenen zaghaften Versuche, den Autoverkehr in der Stadt zurückzudrängen.

Wegners Verkehrssenatorin Ute Bonde, CDU, hat in diesem Sinne jüngst per Anordnung ein Kiezblockgroßprojekt im Bezirk Mitte stoppen lassen. „Die Entscheidung zur Einstellung dieses konkreten Projektes stellt zugleich eine grundsätzliche Entscheidung für zukünftige Projekte dieser Art im gesamten Stadtgebiet dar“, ließ ihre Verwaltung zusätzlich wissen.

Das Problem: Berlins zwölf Bezirke mit ihren jeweiligen Bezirksbürgermeister:innen, Bezirksstadträt:innen, Bezirks­parlamenten hängen allesamt am Tropf des Landes, eigene Einnahmen haben sie faktisch nicht. Poller sind zwar noch vergleichsweise preiswert und lassen sich irgendwie aus den Bezirkshaushalten stemmen. Bei umfassenderen Maßnahmen sind die Bezirke aber auf Gelder des Landes Berlin angewiesen. Und von der Seite heißt es nun: Ende Gelände. Verkehrswende-Aktivist:innen, Grüne, Linke und selbst Teile der mitregierenden SPD laufen seither Sturm in der Hauptstadt.

Die Berliner CDU hat sich bei ihrer Kampagne gegen Poller und Kiezblocks insbesondere einen Aspekt herausgepickt: die vermeintliche Behinderung von Rettungs- und Sicherheits­kräften

Generell sind die Auseinandersetzungen um Kiezblocks zwar keineswegs eine Berliner Besonderheit. So wird in Hamburg um „Superbüttel“ gekämpft, in Darmstadt um „Heinerblocks“, in Wien um „Supergrätzl“. Denn umkämpft sind Kiezblocks nahezu überall. „Aber in keiner anderen Stadt wird mit so harten Bandagen gekämpft wie in Berlin. Das ist schon auffällig“, sagt Uta Bauer vom Deutschen Institut für Urbanistik (Difu), die sich seit Jahren mit Kiezblocks beschäftigt.

„Poller-Murks“, „Poller-Frust“, „Poller-Wut“: Nicht zuletzt die Boulevardzeitung B.Z. heizt die Stimmung unablässig an. Kaum eine Gelegenheit wird ausgelassen, um gegen Verkehrsberuhigungsmaßnahmen vornehmlich grüner Be­zirks­po­li­ti­ke­r:in­nen zu holzen. „Egal, ob Verbrenner oder Elektro-Antrieb, die Öko-Partei bekämpft den fahrbaren Untersatz mit immer neuen Schikanen“, hieß es zuletzt in einem Kommentar.

Die Berliner CDU wiederum hat sich bei ihrer nicht minder aufgeregten Kampagne gegen Poller und Kiezblocks insbesondere einen Aspekt herausgepickt: die vermeintliche Behinderung von Rettungs- und Sicherheitskräften. Mehrfach gingen in den sozialen Medien kleine Videos viral, die zeigten, wie ein Kranken- oder ein Feuerwehrwagen an einem rot-weißen Pfosten scheitert.

Ideologisch gesetzte Pfosten

Der Kampagne artig folgend, erklärte Verkehrssenatorin Ute Bonde in der jüngsten Abgeordnetenhaussitzung, dass ihr natürlich an Verkehrsberuhigung in Wohngebieten gelegen sei. Dies aber nur, wenn die „Unversehrtheit von Leib und Leben“ garantiert sei. Was ja, so Bonde, in vielen Fällen nicht der Fall sei. „Insofern gefährden ideologisch gesetzte Poller Leben.“ Sie hätte auch sagen können: Poller sind Mörder.

„Das stimmt doch vorn und hinten nicht“, sagt Uta Bauer vom Difu. Die Poller ließen sich in der Regel mit einem Universal­schlüssel von den Einsatzkräften umklappen. „Das größte Problem für Rettungskräfte und die Müllabfuhr sind nachweislich nicht Poller, sondern zugeparkte Straßen, insbesondere an Kreuzungen und Einfahrten.“

„In keiner anderen Stadt wird mit so harten Bandagen gekämpft wie in Berlin. Das ist schon auffällig“

Uta Bauer, Deutsches Institut für Urbanistik

Dass jegliche Formen der Verkehrsberuhigung derart verbiestert von der Hauptstadt-CDU bekämpft werden, hat auch mit ihrem eigenen Versagen zu tun. Viele Jahre in der Opposition, war die Partei in die Berliner Wiederholungswahl 2023 mit dem Versprechen gezogen, den unter der damals regierenden rot-grün-roten Koalition vermeintlich geknechteten Au­tofah­re­r:in­nen wieder einen Platz an der Sonne zu verschaffen. „Wir lassen uns das Auto auch in Berlin nicht verbieten“, hatte der seinerzeitige Oppositionsführer Kai Wegner lauthals verkündet.

Die CDU wurde stärkste Kraft, Wegner Regierungschef und das Auto nicht verboten. Nur das Versprechen auf allzeit freie Fahrt wurde nicht eingelöst. Im Gegenteil, Berlin ist Stau-Hauptstadt geblieben, viele Straßen sind schlaglochlustige Rumpelpisten, die Brücken fallen auch zusammen. Schuld sind aus Sicht der CDU die anderen: die Fahrradfahrer:innen, die Straßenbahnen, die Vorgängerregierungen und generell die Bezirke mit grünen Stadt­rä­t:in­nen und ihren Verkehrsberuhigungskonzepten.

Kann man alles so herunterbeten, wird dadurch aber nicht richtiger, sagt Kiezblock-Forscherin Uta Bauer. „Das Problem ist doch, dass wir weiterhin einen wachsenden Verkehr sehen. Das System kommt langsam an seine Grenzen.“ Viel zu viele hielten sich nicht mehr an Regeln, die Stimmung auf Berlins Straßen werde zunehmend aggressiver. „Das liegt daran, dass es immer weniger Platz für alle Verkehrsarten gibt. Darauf müssten der Regierende Bürgermeister und die Verkehrs­senatorin mal eine Antwort geben. Stattdessen setzen sie auf Populismus.“

Den kleinen Poller auf der Lichtenberger Stadthausstraße können indes auch Kai Wegner und Ute Bonde nicht einfach umhauen. Im komplizierten Berliner Zuständigkeitswirrwarr ist er eine reine Bezirksangelegenheit. Auch steht er bereits.

Zu Fall bringen kann ihn nur eine Mehrheit im Bezirks­parlament – und die ist aktuell nicht in Sicht.

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