: Keine Hymne an die Notlösung
■ Wohl eine Frage der Humorfähigkeit: Die neue Oliver-Sacks-Produktion „www.mann.frau.hut.de“ des Jungen Theaters kann man lieben oder hassen / Besonders viel Einfühlungsvermögen beweist sie aber nicht
Immer dieses Mißverständnis: Daß das Volumen von Schauspielkunst zu bemessen wäre an der Anzahl der vorgeführten Muskelkontraktionen an Leib und Visage. Und dann dieses Shakespeare-Company-Syndrom: Der Drang, die Vorlage zu verfremden und in der Tragödie die Gaudi und das Jahrmarktsspektakel hervorzukitzeln. Nur ja keine atavistische Betroffenheit.
Das Junge Theater nähert sich in der neuen Produktion „www.mann.frau.hut.de“ dem thrillerspannenden Sachbuch des amerikanischen Neurophysiologen Oliver Sacks mit dem realsurrealistischen Titel „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“. Es nutzt dabei seinen bevorzugten Stil, den des konsequent antinaturalistischen Grimassen-Bodenwerf-Zuck-und-Zappel-Theaters.
Die Sammlung von Fallgeschichten von zerebral verunfallten Menschen wird in eine Kette teils bestrickender comedy-artverwandter Sketche aufgelöst. Der vergebliche Versuch einer Frau mit Parkinsonsyndrom, ihren widerspenstigen, ungehorsamen Körper zum Füllen eines Wasserglases zu überreden, löst im Publikum teils doch noch im Halse steckengebliebenes Grinsen, teils ausgelassenen Jubel aus. Der virtuose Zappeltanz von Erkan Altun erntet Lachorkane und Zwischenapplaus: Toll, wie der Mann Zunge und Backenknochen quer übers ganze Gesicht rotieren läßt, befinden alle Connaisseure von Artistereien. Bekennende politically-correctness-Trottel aber, die selbst nach jahrelangem, redlichen Nietzschestudium Mitleid nicht als spießbürgerliche Kategorie erkennen können und wollen, kann es passieren, daß sie von nierenkolikuntermalten Haßattacken gegen die Regie (Anke Thiessen, Ralf Knapp) geplagt werden.
Nun muß es am Ende des zweiten Jahrtausends natürlich erlaubt sein, über Katatonie, Aphasie, Parkinson, Amnesie und all jene Körper, die sich durch Nervenleiden wie ein kubistisches Kunstwerk in unkoordinierbare Einzelteile auflösen, von Herzen zu scherzen. Stellt sich nur die Frage, ob Oliver Sacks dazu die geeignete Wichsvorlage bildet. Die Antwort lautet: Nein. Zumindest für jene Menschen, die in ihrem bescheidenen Leben miterleben konnten, wie ein sich als mängelwesig empfindender Mitmensch durch Sacks grandiose Verteidigung der Mängelwesigkeit vom Selbstmord abgehalten wurde. Auch soll Sacks kürzlich in einem Lettre-Interview gemeint haben, den Arzt verbinde mit dem Schauspieler die Notwendigkeit der Einfühlung. Empathie also und nicht postbrechtsche Brechungen wären hier gefragt.
Sacks ist nämlich ein altmodischer, romantischer Humanist. Und der allereinzigste Grund, aus dem er Buch um Buch in unsre kalte, herzlose Welt hinausjagt, ist der Wille zur Verbreitung seiner Theorie, daß Beschädigungen (Armbruch, Blindheit, Gedächtnisverlust, Gleichgewichtsverlust) nicht nur defizitär sind, sondern das Hirn zu fantastischen, bewunderungswürdigen Neustrukturierungen animieren. Quasi eine Hymne an die Notlösung. Schon für Arnold Gehlen war ja der Mangel Anstoß zu allen zivilisatorischen Leistungen. Den gemeinhin schal schmeckenden Wörtern „Substitution“ und „Kompensation“ verleiht Sacks einen euphorischen Beigeschmack. Nichts davon in der hiesigen Inszenierung. Auch interessiert sich Sacks sehr für jenen tragischen, aber auch magischen und hilfreichen Erleuchtungsmoment, wo Kranke ihr Defizit erkennen. Das Junge Theater nicht.
Ein Lieblingszitat Sacks lautet: „Frage nicht, welche Krankheit die Person hat, sondern welche Person die Krankheit hat.“ Will heißen: Jeder Fall ist absolut individuell. In einem Buch, das sich mit nichts anderem beschäftigt als mit Migräne, dekliniert Sacks diese Einzigartigkeiten auf leserfolternden 400 Seiten durch. Angesichts dessen wirken die vielen Maschinenmensch-exegesen und Gruppenchoregraphien der Inszenierung fragwürdig.
Natürlich kann es im Theater Sinn geben, die Seelenzuckungen von uns Normalbürgern in Form von Körperzuckungen sichtbar zu machen. Wo die Zerborstenheit des Menschen aber so sichtbar ist wie bei einem Parkinsonpatienten, bleibt Theater an der Oberfläche, das sich auf die multiple Körperlichkeit lang und breit und launig kapriziert. Schon nach drei Minuten körperintensiver Spieldauer ist die komplette Schauspielercrew in Schweißströmen gebadet und zittern angespannte Muskel. Was würden wohl jene Aphasiepatienten dazu sagen, denen laut Sacks alle aufgesetzen, übertriebenen Gesten heuchlerisch vorkommen? In Wahrheit sind wir alle Körperentfremdete, behauptet eine Szene, in der die Schauspieler (inspiriert durch die von Sacks beschriebene Imitationskrankheit) die Körperhaltungen des Publikums imitieren und verhohnepipeln. Nun gab Handkes „Publikumsbeschimpfung“ Sinn in den 60ern. In den 90ern aber ist der Gestus erhellender Beleidigung von Talkradiokäse à la Harald Schmidt besetzt und verhunzt. Genial allerdings der Mut, das Publikum durch eine Viertelstunde abgedunkelter Untätigkeit systematisch zu verärgern („Und das soll jetzt wohl ein Erlebnis sein.“), um es dann mit einer wunderbaren Bildidee zu vertrösten. Überhaupt: Es gab viele tolle Einfälle: Wie Amnesiepatienten ihre Umwelt mit der weltfremden Verzauberung von Säuglingen bestaunen; wie ein Memory-!-Spiel aufgedeckt wird und sich einfach keine Paare finden. Solche Qualitäten anerkennt auch Barbara
„Betroffenheits-Oldie“ Kern
Weitere Aufführungen vom 2. bis 4. April sowie vom 7. bis 11. April um 20.30 Uhr im Jungen Theater
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