: „Kein Gespinst eines momentanen Impulses“
■ Am Rande des Volksdeputiertenkongresses nachgefragt
Interview mit dem radikaldemokratischen Abgeordneten Anatolij Schabad, der letzte Woche in die Parlamentsschlägerei verwickelt war.
taz: Ist Jelzin in seiner Rede über das Ziel hinausgeschossen?
Schabad: Ich hielt sie für eine ganz natürliche Reaktion auf das Verhalten des Kongresses in den letzten Tagen. Schließlich zielt er auf eine konstitutionelle Revolte ab. Sie versuchen eine Präsidentialdemokratie in eine parlamentarische Demokratie zu verwandeln. Die Präsidentschaft erlösche, wenn der Präsident eines der gesetzgebenden Organe auflöst. Diese Entscheidung gestern war ein offener Verfassungsbruch. Ist das nicht eine direkte Einladung zu einem Staatsstreich? Der Kongreß kehrte zu Fragen zurück, die längst abgelehnt worden waren.
Die Unterschriften für das Referendum sind kein Problem?
Die Unterschriften haben wir schnell zusammen, keine Frage. Dann muß der Oberste Sowjet jedoch den Termin des Referendums festlegen. Und es ist damit zu rechnen, daß diese konservative Institution einige künstliche Hürden errichtet. Die Sache geht dann weiter an das Verfassungsgericht. Voraussichtlich wird das die Einwände des Obersten Sowjets für ungesetzlich erklären. Der Konflikt hätte verhindert werden können, wenn der Kongreß nicht das Gleichgewicht der Kräfte durcheinandergebracht hätte.
Ist Jelzin nicht zu weit gegangen mit seinen Kompromissen?
Neuwahlen bergen eine Gefahr in sich. Noch reaktionärere Kräfte bevölkern den nächsten Kongreß. Aber eine direkte Gefahr für den Präsidenten sehe ich momentan nicht. Der Kongreß hat seine ganze destruktive Kraft verschossen. Jelzin war sehr kompromißbereit, hat ihnen jetzt aber eine andere Seite gezeigt. Chasbulatow war doch vorgewarnt. Ich glaube, Jelzins Akt war kein Gespinst eines momentanen Impulses. Vorbereitungen liefen schon lange.
Gerade kommen Sie hinzu, Prof. Jurij Iwanilow. Was denken Sie, als Vertreter der Industriellen- Fraktion, aus dem oppositionellen Lager der Zentristen?
Ich halte Jelzins Akt für mißlungen. Selbst wenn er längerfristig nötig geworden wäre, hätte er ihn lieber in ruhigen Verhältnissen angehen sollen. Außerdem hätte er noch einmal den Dialog mit dem Kongreß suchen müssen. Beim Referendum stehen die Chancen gut. Allerdings kann es auch nach hinten losgehen. Dann bekommt keiner die Mehrheit, weil die Leute heute einfach zu nihilistisch eingestellt sind.
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