: Kein Geheimcode für Obdachlose
■ Seehofer stampft Pläne für das medizinische Codiersystem ICD 10 ein
Berlin (taz) – Der Protest von 25.00 niedergelassenen Ärzten hat das bundesdeutsche Gesundheitssystem vor einem bürokratischen Flop bewahrt und die Patientenschaft vor der computergerechten Erfassung ihres Befindens. Die umstrittene Codierung ICD10, nach der sämtliche Kassenärzte der Republik die Krankheitsbilder ihrer Patienten an die Kostenträger des Gesundheitswesens übermitteln sollten, wird nicht eingeführt. Gesundheitsminister Horst Seehofer persönlich kündigte jetzt den geordneten Rückzug von dem gigantischen Datenerfassungsprojekt an, in dem Ärzte und Datenschützer die Schaffung von „gläsernen Patienten“ sahen.
Rund ein Viertel der niedergelassenen Vertragsärzte in Deutschland waren vor zwei Jahren gegen das Projekt Sturm gelaufen. Zum 1. Januar 1996 sollten ausnahmslos sämtliche Praxen verpflichtet werden, die Krankeitsbilder von Patienten nach dem International Code for Desease (ICD) in codierter Form weiterzuleiten. Bei einer Verweigerung dieses Datentransfers drohten die Kassen mit Honorarentzug.
Unter 14.000 Diagnosen sollten die Ärzte die geeignete wählen und nach einem Schlüssel einprogrammieren. „F.15.1.“ z.B. stand da für „schädlicher Gebrauch von Koffein, Alkohol oder Tabak“, „Z.59.0“ sollte der Arzt eingeben, wenn die Erkrankung eines Patienten auf Obdachlosigkeit zurückzuführen sei. Gleich kapitelweise sah der ICD10 auch Codes für Sexualverhalten und psychische Erkrankungen vor. Ein leichter Husten jedoch wuchs schnell zur akuten Bronchitis, weil es dafür nur eine Codenummer gab.
„Untauglich“ und „viel zu undifferenziert“ hatten die Mediziner protestiert und vor sensiblen Datenbanken gewarnt, die Begehrlichkeiten wecken könnten.
Kalt erwischt vom Ärztewiderstand, hatte Bundesminister Seehofer vor zwei Jahren eingelenkt und die erzwungene Einführung des Codiersystems zwar nicht aufgehoben, aber aufgeschoben. Zunächst sollte zwei Jahre in zwei Modellregionen, in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, die flächendeckende Codierung getestet werden. Das Ergebnis muß vernichtend gewesen sein. „Außer viel Bürokratie war da nichts“, heißt es jetzt aus dem Bundesgesundheitsministerium, „ein Nutzen war nicht erkennbar.“ Seehofer, einst Protagonist der gesetzlichen Verpflichtung zur Codierung, sei jedenfalls nicht mehr bereit, die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Er könne nicht weniger Bürokratie fordern und dann den ICD10 einführen, erklärte Seehofer. Vera Gaserow
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