: Kein Gamelan aus schlechtem Gewissen
Sie soll an die Mainstream-Instinkte der Musikpresse appellieren, ist aber dem Markt stets einen Schritt voraus: Moment mal – wie funktioniert sie nun eigentlich, die Radiohitparade der „Europäischen World Music Charts“?
„Als wir zum ersten Mal in den ‚World Music Charts‘ ganz oben standen, freuten wir uns schon über den kommerziellen Durchbruch“, erinnert sich Kari Reiman, der Geiger der finnischen Folk-Supergruppe Värttinä. „Doch dann hat uns jemand erklärt, dass da nur die Radio-Einsätze in ein paar speziellen Weltmusik-Sendungen gewertet werden – und da waren wir dann doch schon etwas enttäuscht.“
Heute wissen die meisten Musiker und Plattenfirmen besser Bescheid. Denn die „World Music Charts Europe“, wie sie offiziell heißen, gibt es immerhin schon seit 1991. Initiiert hat sie der Berliner Hörfunkjournalist Johannes Theurer, heute Musikchef bei Radio Multikulti vom SFB.
„Wir wollten den Medien Anlässe geben, über Weltmusik zu berichten“, so Theurers Gründungsidee. „Damals war der erste Hype um Ofra Haza und Mori Kanté gerade vorbei, und wir hatten Angst, dass sich die Musikpresse nun einfach anderen Phänomenen zuwendet.“ Der Begriff „Charts“ wurde dabei bewusst gewählt, um an die Mainstream-Instinkte der Pop- und Rockjournalisten zu appellieren.
Zu Beginn gaben nur elf Journalisten aus elf Ländern ihre Wertung ab. Heute sind es immerhin schon 44 Radio-DJs aus 21 europäischen Staaten, von Norwegen bis Griechenland. Rund ein Viertel der Panelmitglieder kommt dabei allerdings aus Deutschland – ein Zeichen dafür, dass Weltmusik im hiesigen Rundfunk inzwischen relativ gut vertreten ist.
Deutsche Hegemonie fürchtet Johannes Theurer, der das Projekt mit seinem SFB-Kollegen Tobias Maier immer noch koordiniert, jedoch nicht: „Mit Blick auf die Musik aus Asien, Afrika oder Lateinamerika sind wir Europäer doch alle nur Außenstehende.“ Für die Vermarktung von Künstlern sind die Weltmusik-Charts natürlich ziemlich wichtig. Eine gute Platzierung wird häufig als Verkaufsargument benutzt und öffnet auch den Weg zu Touragenten und Konzertveranstaltern.
Immerhin werden die Charts über Fachblätter und Tageszeitungen in ganz Europa verbreitet. So wurde etwa die Bollywood Brass Band aus London, die indische Film- und Hochzeitsmusik spielt, quasi über Nacht zu einem Top-Act der europäischen Weltmusikszene.
Wer allerdings mit der Liste in der Hand einen Plattenladen aufsucht, wird selbst die topplazierten CDs oft vergeblich suchen. Denn die Empfehlungen der Journalisten sind dem Marktgeschehen meist weit voraus. „Während der Buena Vista Social Club auch heute noch zu den meistverkauften Weltmusik-CDs gehört, ist er aus unseren Charts schon nach wenigen Monaten wieder herausgefallen – lange vor dem großen Boom“, beschreibt Theurer das Dilemma seiner Avantgarde-Hitparade.
Auf der anderen Seite gibt es immer wieder Kritik, dass die Charts zu sehr auf den kommerziellen Massengeschmack schielen. Damit hat Theurer allerdings überhaupt kein Problem: „In den Sendungen der DJs laufen natürlich vor allem radiotaugliche Nummern, und dann müssen die auch in den Charts auftauchen“, so der Berliner Koordinator, „das wäre doch seltsam, wenn wir nur aus schlechtem Gewissen ein indonesisches Gamelan-Orchester auf Platz eins setzen würden.“
CHRISTIAN RATH
World Music Charts Europe im Internet: www.wmce.de
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