piwik no script img

„Kein Blut“

Das Mount-Marathon-Rennen in Alaska vom 4. Juli  ■  PRESS-SCHLAG

Von Newport, Rhode Island, bis Mendocino in Kalifornien begehen alle Amerikaner ihren Unabhängigkeitstag mit einer Parade am Vormittag, einem traditionellen Barbecue im Vorgarten am Nachmittag und Feuerwerk am Abend. Der 4. Juli

-ein Tag patriotischer Entspannung. Für ganz Amerika? Keineswegs - geruht wird nur in den Lower 48, den 48 Staaten der kontinentalen Rest-USA, wie die Alaskaner ihr zivilisiertes Mutterland zu nennen pflegen.

Hier oben ist alles anders. Wie an jedem 4.Juli macht sich ein Heer von Pickup-Trucks, 4-Wheelers und Winnebagos (überdimensionale Campingfahrzeuge) auf nach Seward zur Kenai-Halbinsel, zwei Autostunden von Anchorage und drei Tankerstunden von Valldez entfernt. Um die Unabhängigkeit zu feiern wird in Seward seit 1912 alljährlich eine Sportart zelebriert, bei der es vor allem um die Beherrschung des verlängerten Rückenmuskels ankommt: das „Mount-Marathon -Rennen“. Das 3,5-Meilen-Rennen auf den 1.000 Meter hohen Mount Marathon ist Sewards Unabhängigkeitsparty.

Am Dienstag morgen hüllt sich der Gipfel des Mount Marathon noch in arktischen Nebel, da prescht der erste Pulk von 210 Läuferinnen von der Ecke Third Avenue/Jefferson Street in Richtung Berg, als wäre eine Legion ölverschmierter Krabben hinter ihnen her. Noch sehen sie aus wie Jane Fonda im Jogging-Anzug, aber intime Kenner des Rennens wissen: Keine kommt so wieder, wie sie losgelaufen ist. Der Anstieg ist mörderisch, weil der Berg seinen eigenen Willen hat, ja einen „miesen Charakter“, wie die 'Anchorage Daily News‘ weiß.

Er liebt es, die Menschen zu quälen, egal welche Strecke die Läufer wählen. Mut wird honoriert, Sorglosigkeit bestraft - es ist wie im wirklichen Leben: Ein Fehltritt, und man liegt, wie in diesem Jahr Dean Rau aus Willmar (Minnesota), als blutendes Häufchen Elend in der Schlucht.

Es gibt keinen Weg, nur eine Richtung: nach oben. Bei nahezu 60 Grad Steigung krachen die Waden, und nach wenigen Dutzend Metern kämpfen sich die stolzen Athletinnen auf allen Vieren voran. Doch anders als im American Dream ist mit dem Erreichen des Gipfels noch nichts erreicht - im Gegenteil: der Weg abwärts nach Seward ist die wahre „Challenge“, die entscheidende Herausforderung.

Das wußte auch der 27jährige Skilehrer Mike Graham, als er als erster die Spitze des Mount Marathon erreichte: „Du mußt das Terrain genauestens studiert haben, jeder Tritt muß sitzen, gerade beim Abstieg.“ Und er saß. Nach 49,17 Minuten stolperte Graham von Sträuchern zerkratzt und mit abgeschürftem Hosenboden über die Ziellinie in der Third Avenue, unten an der Resurrection Bay. „Rekord war das nicht“, mäkelten Unverbesserliche. Denn dieser wird mit 43,23 Minuten von dem früheren Ski-Olympioniken Bill Spencer gehalten.

Auch der Rekord beim Lauf der Frauen wurde von der diesjährigen Siegerin Nancy Pease (51,14 Minuten) nicht erreicht. Mike Graham hat nur eine Entschuldigung: Die ungewöhnlich warmen Temperaturen der vorangegangenen Woche hatten das Schneebett auf dem oberen Teil des Mount Marathon auf einen unbedeutenden Flecken zusammenschrumpffen lassen. Gerade durch seine ausgefeilte Rutschtechnik aber war er im letzten Jahr mit seinen 46,24 schon dicht dran gewesen.

Während Dean Rau als 54. übers Ziel kroch und anschließend vom Roten Kreuz abtransportiert wurde, überprüfte der stahlende Titelverteidiger Mike Graham lässig seine Wade: „Kein Blut.“

Zum Abschluß dieses denkwürdigen Rennens stiftete das boomende Städtchen Seward den Tausenden Zuschauern ein Feuerwerk, über dessen Farbenpracht die Reporter wegen mitternachtsonniger Verhältnisse leider keine Auskunft erteilen können.

Alexander Smoltczyk, Henk Raijer (z.Z. Seward)

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen