Katholische Erziehung: "Die Schülerzeitung hieß ,Das Ventil'"
Werner Haase besuchte in den 1960er Jahren die Hamburger Sankt-Ansgar-Schule, die wegen mehrerer Missbrauchsfälle in die Schlagzeilen gekommen ist. Was er dort erlebt hat, war ein Klima der Angst und der Gewalt.
Ich bin zehn Jahre nach Kriegsende geboren und war zunächst in einem weltlichen Kindergarten in Hamburg-Barmbek, einem Arbeiterviertel. Da waren die Kinder der KPDler aus der Kampnagel-Fabrik - die hatten mit Religion erst mal gar nichts am Hut. Ab der zweiten Grundschulklasse war ich auf der katholischen Schule St. Sophien. Das war ein Bruch für mich in meinem Leben.
Der Schulleiter von St. Sophien von 1963 bis 1965 hieß Lübcke. Einmal kam er in die Klasse, ging auf einen Jungen zu, der immer querschoss. Er nahm ihn am Handgelenk, riss ihn hoch, und schrie: "Deine Mutter hat gesagt, wir sollen dich hier mal richtig erziehen." Dann hat er ihm vor der ganzen Klasse den Po entblößt und mit einem Bambusrohr so lange auf den Hintern geschlagen, dass das alles blau und rot war.
Aus dem Kontingent der Schüler an St. Sophien wurden Messdiener rekrutiert. Mit den Jungs bin ich später an die Sankt-Ansgar-Schule gekommen. Dort waren hauptsächlich Kinder aus besser gestellten Familien - Kinder von Ärzten und Kaufleuten und Studienräten. Meine Großmutter sagte zu mir: "Hier sollen Priester geschmiedet werden und unser sehnlichster Wunsch ist, dass du auch Priester wirst."
Der Erstkommunion und Beichte habe ich mit unglaublichen Ängsten entgegengesehen. Weil in dem Gebot "Schamhaftigkeit und Keuschheit" im Beichtstuhl genau nachgefragt wurde: Wo hast du dich denn da angefasst? Und dann explodierte der Priester im Beichtstuhl: "Das ist ja richtig boshaft, was du da mit deinem Körper anstellst. Dafür musst du zehn ,Gegrüßet seist Du Maria' als Buße beten."
Es wurde auch unglaublich viel gepetzt. Wenn man zum Beispiel so ein Wort wie "Busen" benutzt hat, rannte jemand nach vorne und dann hieß es: "Werner hat ,Busen' gesagt!" Dann musste man sich zur Strafe draußen vor dem Klassenzimmer auf einen Stuhl setzen. Es gab auch eine Schülerzeitung. Die nannte sich: Das Ventil.
besuchte von 1963 bis 1966 die Katholische Sophienschule und von 1966 bis 1971 die Sankt-Ansgar-Schule, die bis 1993 vom Jesuiten-Orden geleitet wurde. Nach wie vor ist die Schule in die jesuitische Tradition eingebunden und sieht die Ignatianische Pädagogik als grundlegend an.
Mit 16 Jahren verließ Haase die Schule auf eigenen Wunsch und ging auf das weltliche Gymnasium Farmsen. Heute ist Haase von Beruf staatlich anerkannter Erzieher und arbeitet in Hamburg-Altona.
Am Sankt-Ansgar-Gymnasium mussten wir einmal pro Woche zur Schulmesse. Die Hostie, das ist ja dieses kleine Stück Brot, das dann wie durch einen Zauber in den Leib Christi verwandelt wird: Da gab es die Direktive, dass man das nicht mit den Zähnen berühren durfte im Mund. Es durfte nur aufgeweicht und dann im Stück runtergewürgt werden. Man durfte drei Stunden vorher nichts essen. Das führte teilweise dazu, dass Kinder in der Kirche umgekippt sind.
Schulmesse bedeutete Zwangsstillsitzen für eine ganze Stunde. Währenddessen schoss immer ein Pater durch die Gänge und wenn jemand redete, dann gab es sofort einen hinter den Kopf: "Still hier!" Vorne war Pater Rendenbach, der Schulleiter, und las die Messe. Die Orientierung war: Die Sankt-Ansgar-Schule ist die Speerspitze in der Diaspora. Wir versuchen mit Patres aus dem Rheinland und dem Saarland und mit Hamburger katholischen Familien eine Art Wehrdorf im evangelischen Teil Deutschlands darzustellen.
Wir wurden ganz stark unter Druck gesetzt, Messdiener zu werden. Das ist ja ein Vorstufe zum Priester-Dasein. Wir wurden geschult, was ein Credo ist und eine Eucharystie-Feier und eine Christmette. Das fand statt im Rahmen einer Organisation namens "ND" - das stand für "Neues Deutschland". Das war wie ein Pfadfinder-Zusammenschluss, mit Fahrten, auf denen des auch Lerneinheiten gab. Das lief für einige auf so eine Art Gehirnwäsche hinaus. Die Organisation traf sich in den Kellern der Sankt-Ansgar-Schule, und dann mussten Prüfungen bestanden werden. Man musste zum Beispiel Gebete auswendig aufsagen. Dann wurde man aufgenommen und zugelassen zum Messdienerunterricht.
Es gab auch Stars unter den Patres. Ganz vorne weg war Pater Gumpel. Der war schon an die 70 Jahre und hat die Kinder, die nicht aus den guten Familien stammten, immer richtig fertig gemacht. Ich bin zweimal sitzen geblieben. Anstatt mich entsprechend zu fördern, hat der mich in die Nachbarklasse gerufen und die Lateinvokabeln abgefragt. Jedes Mal, wenn ich eine nicht wusste, hat er mir so auf den Hinterkopf gehauen, dass ich mit dem Gesicht aufs Pult geknallt bin. Am Ende der Stunde war dieses Vokabelheft rot von Blut.
Pater Gumpel hat immer gegrinst. Der war so ein Typ wie Danny DeVito. Etwas dicker, große Brille und die schwarze Hose immer bis zu den Brustwarzen hochgezogen. Es war schwierig, gegen ihn was zu machen, weil der so einen Rückhalt hatte überall.
Pater Gumpel musste in den Pausen immer mit der U-Bahn hin- und herfahren zwischen zwei Schulen. Dabei kam es vor, dass er alleine in der U-Bahn war. Es gab Schüler, die wollten ihn aus der U-Bahn werfen. Es gab einen richtigen Mordplan. Und wenn es nicht klappen sollte, sollte Pater Gumpel mindestens einmal im Leben so viel Angst vor ihnen haben, wie die Schüler immer vor ihm hatten. Der Mordplan war wie eine Therapie für sie.
Bedrohung gab es aber auch durch weltliche Lehrer. Herr Lichtherz zum Beispiel. Der war Kriegsversehrter und hatte eine Prothese. Er wurde von den Schülern immer "Holzfuß" genannt. Es war auf den Fluren der Schule immer sehr still, weil Rennen oder lautes Lachen waren ja nicht erlaubt. Deswegen hörte man ihn, wenn er auf dem Flur hing. Und dann verpieselten sich immer alle. Weil er immer völlig grundlos auf jemanden zusprang. Er hob die Hand und schrie denjenigen an: "Warum bist du nicht in der Klasse? Was hast du hier zu tun?" Mit so einer gellend lauten, sich überschlagenden Stimme. Und die hörte man jeden Tag ein paar Mal im Schulgebäude.
Einmal hat er uns im Fahradkeller beim Rauchen erwischt. Er hat meinem Mitschüler so schwer Prügel angedroht, dass der leichblass wurde. Lichtherz hat gesagt: "Wenn ich dich schlag, dann stehst du nicht mehr auf. Aber vorher spucke ich dir meinen Prim ins Gesicht."
Ich war mal mit zwei anderen in der Toilette, da haben wir auch heimlich geraucht. Dann hat die Pausenaufsicht das gepetzt und es kam einer von den Patres an. Der hat unseren Eltern einen Brief geschrieben. Es sei eine Frage, ob wir weiter für den Schulbetrieb geeignet seien, wir wären vom anderen Ufer. Das war die Vorstellung von Jugendlichen, die sich auf eine Toilette einschließen. Auch wenn in der alles verqualmt ist.
Wir trauten uns schon, unseren Eltern zu sagen, wenn wir geschlagen wurden. Aber man muss sich auch vorstellen, dass ähnlich wie bei Sekten in so einer katholischen Gemeinde in Hamburg eine strenge Kontrolle herrschte. Die Frage war: Wer ist ein fauler Apfel? Ein fauler Apfel steckt die anderen an, den müssen wir isolieren. Das war die Direktive und das steht auch so in der Bibel: Redet nicht mit Ungläubigen, redet nicht mit Zweiflern. Wenn man also gesagt hat: Der Gumpel ist ein Schläger - dann wurdest du isoliert. Das riskierte niemand.
Durch das Meiden des Themas Sexualität wird es zu einem mystischen Geheimnis stilisiert. Dann fangen natürlich die Schüler auch an, die Patres in dieser Hinsicht zu beobachten, einzuordnen und zu provozieren. In einer Klasse haben Schüler über das Klassenkreuz an jede Strebe ein Kondom gezogen. Beim Morgengebet drehen sich dann alle um, alles kichert und lacht. Dann gibt es eine Kollektivstrafe, vom Direktor angeordnet, und Briefe an die Eltern.
Die Patres legten uns öfter die Hände auf unsere Köpfe. Da war dann so ein freundliches Lächeln dabei, aber dahinter spürte man so ein Greifen nach uns. Auf eine Art, die wir nicht verstanden haben. Das konnten die auch bei sich selber nicht kontrollieren. Aber ich hatte das Gefühl: Der will etwas ganz anderes von mir. Warum lächelt der mich die ganze Zeit so an und spricht so merkwürdig mit mir? Langsam und gedehnt und guckt mir die ganze Zeit in die Augen. Als Kind hat man dafür ein sehr feines Gespür. Aber man nimmt Menschen als Kind ganzheitlich wahr, akzeptiert das und sieht auch die anderen Seiten. Das führt dazu, auch immer wieder Vertrauen zu schöpfen.
Ich selbst habe an sexuellen Übergriffen nicht viel erfahren. Das lief subtil ab. Was ich schade finde, ist, dass wir so viel Ängste ausstehen mussten vor dieser bedrohlichen kirchlichen Fassade.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Rekordhoch beim Kirchenasyl – ein FAQ
Der Staat, die Kirchen und das Asyl
Preise fürs Parken in der Schweiz
Fettes Auto, fette Gebühr