Kassiererin „Emmely“: Die aufmüpfige Kollegin
Man hatte ihr gekündigt – wegen eines Pfandbons von 1,30 Euro und wegen eines Verdachts. Zu Unrecht. Und wie geht es „Emmely“ jetzt?
Barbara Emme öffnet eine Schatulle. Drin sind Krokodilkacke und eine getrocknete Bohne. Letztere wird auch als Musikinstrument genutzt. „Das ist ein Geschenk von Gewerkschaftern aus Mali“, sagt sie. Krokodilkacke steht für Stärke und die Bohne für ein langes Leben. Traditionell vergräbt man die Schatulle unter dem Grundstein, wenn man sich ein Haus baut. Das hat Barbara Emme gemacht – wenngleich nicht aus Steinen.
Bekannt geworden ist die Supermarktkassiererin mit ihrem Spitznamen „Emmely“. Ihr Arbeitgeber, Kaiser’s, hatte ihr im Jahr 2007 vorgeworfen, zwei Flaschenpfandbons im Wert von 1,30 Euro zu ihren Gunsten eingelöst zu haben. Sie wurde gekündigt, obwohl man ihr nichts nachweisen konnte. „Manchmal kommt alles auf einmal“, erinnert sich die alleinerziehende Mutter von drei Kindern.
Job weg, Wohnung weg, Kinder ausgezogen, Vater verletzt. Trotzdem, sagt sie, sei es nur ein kurzes Tief gewesen. Im Nachhinein sind zweieinhalb Jahre, in denen sie um ihre Würde kämpfte, vielleicht auch kurz. Sie versinkt auf ihrem Sofa im Wohnzimmer, gemütlich in Jeans und Wolljacke, mit weißen Pantoffeln, die Haare zum Zopf gebunden.
Die Kündigung
Nach ihrer Kündigung – dem Schock, der Kränkung und Erniedrigung – hat sie ihre Sachen gepackt und ist aus der großen Wohnung in eine kleine in Hohenschönhausen gezogen, einem Berliner Bezirk im ehemaligen Ostteil der Stadt, zweiter Stock, Plattenbau. Sie lächelt, lehnt sich zurück, springt wieder auf und holt von ihrem Schreibtisch einen weiteren Schatz: In Flieder gehalten steht handgeschrieben „Mein Soli-Buch“ darauf.
Diesen und viele andere spannende Texte finden Sie in der sonntaz vom 9./10. Februar 2013. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Für Fans und Freunde: facebook.com/sonntaz.
„Ich bin dankbar für alles, was mir widerfahren ist“, sagt sie und schlägt das Album auf: Solidaritätsbekundungen, Briefe, Bilder von Montagsdemos, ausgewählte Artikel, Mutmachsätze von Promis und Unbekannten, ein beeindruckendes Allerlei, auch ein Kassenbon klebt darin, den sie aufbewahrt hat, auf dem „Meine Hochachtung“ steht. „Den hat mir eine fremde Frau geschenkt. Verstehen Sie jetzt, was ich meine, wenn ich sage, dass ich dankbar bin?“
Emmely blättert weiter. „Ach, und hier, ganz wichtig: mein Urteil.“ Das Papier, das für sie so viel verändert hat, könnte formaler nicht sein. „In Sachen Emme / Kaiser’s / Tengelmann GmbH“ steht darauf. Mit ihrem Zeigefinger deutet sie auf den Satz „Im Namen des Volkes!“ Dann blättert sie weiter und sagt: „Recht haben und recht kriegen sind völlig unterschiedliche Dinge.“
Sie hat vor Gericht gekämpft und gewonnen. Sie hat ihren Job wieder, sie sitzt wieder an der Kasse, zehn Minuten Fußweg von zu Hause. Alles wie früher und doch ganz anders. Vortragsreisen würde sie wohl keine machen, gäbe es den Kampf nicht, Bücher hätte sie vermutlich auch keine geschrieben. Gerade ist ihr zweites rausgekommen: „Emmely und die Folgen“ heißt es. Drin steht, wie es ihr ergangen ist. Und wie man sich verhalten sollte, wenn eine Kündigung droht. Es geht darum, wie man seine Rechte einfordert. „Man darf nicht aufgeben“, sagt sie.
Mit Barbara Emmes Kampf gegen ihre Kündigung wurde eine Schieflage öffentlich: auf der einen Seite Bankmanager und Politiker, die großen volkswirtschaftlichen Schaden anrichten können, ohne persönlich zu haften, auf der anderen Seite Leute, die Essensreste mitnehmen, die sonst weggeworfen würden, und denen wegen persönlicher Bereicherung gekündigt wird. Bagatellkündigungen lautet das Fachwort.
Genauer: gekündigt wegen Bagatellen. Alles basierte auf einem Urteil von 1984. Eine Angestellte hatte ein Stück Bienenstich verzehrt und wurde dafür fristlos gekündigt – völlig zu Recht, wie das Bundesarbeitsgericht damals entschied. 26 Jahre lang orientierte sich die Rechtsprechung an diesem arbeitgeberfreundlichen Urteil. „Bienenstich esse ich nur, wenn meine Mutter ihn bäckt“, sagt sie.
Der Kampf
Emme kann sich zugutehalten, dass sich durch ihren Kampf die Rechtsprechung in diesem Bereich positiv verändert hat. Sie hat die Kündigung wegen der zwei Kassenbons nicht hingenommen und musste sich durchkämpfen – wieder bis zum Bundesarbeitsgericht.
Für viele ist Emmely ein Vorbild. Sie selbst würde sich nie so bezeichnen, niemals. „Ich bin eine einfache Person, die etwas gewagt hat“, sagt sie, „nicht mehr und nicht weniger.“ So einfach ist es dann aber auch nicht, denn etwas Widerspenstiges hat Emme doch. Manchmal müsste man ihr auf den Mund hauen, habe ihre Mutter immer gesagt.
„Ich sage oft, was ich denke. Das ist auch ein Grund, warum ich gehen musste, weil ich meinem Chef die Meinung gesagt habe, weil ich, so wie er mich behandelt hatte, nicht behandelt werden wollte.“
Im Herbst 2007 hatte sich Emmely mit sieben weiteren KollegInnen ihrer Filiale an einem gewerkschaftlich getragenen Streik beteiligt gegen weitere Kürzungen, gegen die Streichung von Zuschlägen. „Wissen Sie, ich bin eine hoch bezahlte Arbeitsfachkraft, heute könnte man für mein Gehalt zwei Leute einstellen.“ In den Augen ihres Arbeitgebers war sie eine „aufmüpfige Kollegin, völlig überbezahlt und gern ersetzt gesehen“. Dann kamen der Vorwurf mit den Kassenbons und die Kündigung.
Emme stammt aus einer Arbeiterfamilie aus Mecklenburg, sie ist in der DDR groß geworden, sie ist gelernte „Fachverkäuferin für Waren des täglichen Bedarfs“. Ihren Vertrag, den sie noch aus DDR-Zeiten hat, sichert ihr im Vergleich zu heute mehr Einkommen. Mitglied in der Gewerkschaft war sie auch schon immer, seit 1974, seit ihrer Ausbildung – erst in der FDGB, dann in der HBV, heute bei Ver.di.
Nachdem das Gericht am 10. Juni 2010 feststellte, dass Emmelys Kündigung rechtswidrig war, musste sie sofort wieder eingestellt werden. Zwölf Tage später bekam sie wie gewünscht eine Stelle in ihrem Wohnviertel Hohenschönhausen.
Seit zweieinhalb Jahren arbeitet sie jetzt wieder an der Kasse, 143 Stunden im Monat. Der Anfang sei schwer gewesen, sie bekam die unbeliebtesten Schichten, massive Kassenkontrollen, Freundlichkeitstests wurden gemacht. Viele ihrer neuen Kolleginnen waren ihr gegenüber zurückhaltend. Das legte sich später. Denn es gibt Kunden und Kundinnen, die wollen nur von ihr bedient werden, manche wollen Autogramme, es kommen sogar welche aus der alten Filiale, um extra bei ihr einzukaufen. Diese Solidarität färbe ab.
Die Solidarität
Aber ihr Alltag, ihre Freizeitgestaltung hat sich seither sehr verändert. Durch ihren Kündigungsprozess hat sie sich ein großes Netzwerk aufgebaut. Sie wird für Podiumssitzungen angefragt, sie besucht regelmäßig Gewerkschafter in Paris, sie lernt Französisch, um sich noch besser verständigen zu können, dann lacht sie, sie sei kein Sprachgenie, sie gestikuliert mit den Händen, Merci, bonjour. 2011 war sie gemeinsam mit Delegierten auf der Weltfrauenkonferenz in Venezuela. Es war ihr erster Flug überhaupt.
Manchmal begleitet sie auch Menschen bei ihren Prozessen vor Gericht. Ihr scheint, als fielen Urteile immer besser aus, wenn sie dabei ist. Woher sie die Kraft für all das hat, hat sie sich nie gefragt. Sie tut, was sie tun muss. Ich habe nach meiner Kündigung immer gedacht: „Na ja, es heißt ja immer ’Im Zweifel für den Angeklagten‘. Ich wusste natürlich nicht, dass das nur für das Strafrecht und nicht für das Arbeitsrecht gilt.“ Im Zweifel für den Stärkeren also?
Emmely steht auf, geht ans Fenster und zieht die weißen Häkelgardinen zur Seite. Auf ihrer Fensterbank stehen lauter Orchideen, sie blühen, in Weiß, in Lila. „Ich brauch gar nichts zu machen, die brauchen nur Wasser und Licht.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau