Kassensturz für Beitragszahler: Was kriege ich für meine Beiträge?
von STEPHANIE VON OPPEN
Die Krankenkassenleistungen sind zu 95 Prozent im Sozialgesetzbuch festgeschrieben. So sind alle gesetzlichen Kassen verpflichtet, ihren Mitgliedern Vorsorge, ärztliche Behandlung bis hin zu Krankenhausaufenthalten und Rehabilitationsmaßnahmen zu finanzieren. Dazu kommen Hilfsmittel, z. B. Krücken und Pflegebetten, und Heilmittel wie Arzneien, Krankengymnastik, Massagen und Sprachheilbehandlung. Auch die medizinische Betreuung und finanzielle Unterstützung rund um das Kinderkriegen gehören dazu wie Leistungen bei Mutterschaft, Empfängnisverhütung, Schwangerschaftsabbruch (bei entsprechender Indikation) und künstliche Befruchtung. Alle Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen müssen „ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich“ sein, so hat es der Gesetzgeber einmal bestimmt. Dieser Grundsatz wurde vor allem zu Zeiten des wirtschaftlichen Wachstums kaum beachtet. Das konnte merkwürdige Blüten treiben. So ist es passiert, dass Versicherte sich unter dem Label „Prävention“ Bauchtanzkurse von der Kasse finanzieren ließen.
Wer sagt, was die Kasse bezahlt?
Erst durch Viagra wurde er bekannt: der Bundesausschuss Ärzte und Krankenkassen. 1999 lehnte er ab, dass das Potenzmittel von den Kassen bezahlt wird.
Eine Einrichtung, die sich mit möglichen Heilmitteln und Behandlungsmethoden beschäftigt, gibt es schon seit Bismarcks Sozialgesetzgebung. In seiner heutigen Form wurde der Ausschuss 1955 gegründet. Er hat die Aufgabe, den gesamten Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen (GKVen) zu überprüfen. Von ihm hängt also ab, welche Therapien und Medikamente die Krankenkassen bezahlen müssen. Der Bundesausschuss wird paritätisch durch Vertreter der Krankenkassen sowie der Ärzteschaft besetzt. Außerdem gehören drei „unparteiische“ Experten dazu. Unter den 21 Mitgliedern des Ausschusses ist derzeit weder eine Frau noch ein Patientenvertreter. Auch ein Experte für Naturheilkundeverfahren fehlt. Das hat dem Ausschuss den Vorwurf eingebracht, zu stark schulmedizinisch orientiert zu sein. Der Ausschuss bringt seine Gesetzesvorschläge vor das Bundesgesundheitsministerium, das formal Einspruch erheben kann.
Was will die Pharmaindustrie?
Gewinne. Sie lehnt jeden Vorstoß, die Arzneimittelausgaben zu begrenzen, ab. So sind sich die Pharmakonzerne einig mit den Apothekern, dass eine Positivliste (s. u.) nicht in Frage kommt. Auch eine „Aut-idem-Regelung“ (s. o.) lehnen sie ab. Sie fürchten, dass durch diese Maßnahmen von den 52.000 Medikamenten, die es auf dem Markt gibt, reihenweise Präparate unter den Tisch fallen. In zehn europäischen Nachbarländern hat sich eine Positivliste tatsächlich auf diese Weise bewährt. So kommt man beispielsweise in Schweden mit 3.500 Medikamenten aus.
Zurzeit gehen die Apotheker auf die Barrikaden, weil sie den Krankenkassen in Zukunft höhere Rabatte einräumen sollen. Dieses Rabattgesetz ist Teil eines Notprogramms, mit dem die Gesundheitsministerin verhindern will, dass die Beiträge der Krankenkassen weiter steigen.
Warum reicht das Geld nicht?
Hauptverantwortlich für die finanziellen Probleme der Krankenkassen ist die wirtschaftliche Flaute. So sind aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit die Einnahmen stark zurückgegangen. Außerdem wurden, um die Arbeitslosenkassen zu entlasten, die Beiträge für Empfänger von Arbeitslosengeld bzw. -hilfe reduziert. Das Ergebnis: voraussichtlich 4,5 Milliarden Euro zusätzliche Belastung der Kassen für 2002 und 2003.
Doch auch die Ausgaben sind zu hoch. Ganz zu schweigen von den hohen Verwaltungskosten, die die Kassen selbst produzieren, sind in den vergangenen Jahren zum Beispiel die Arzneimittelkosten explodiert. Den Ärzten wird nun vorgeworfen, zu viele Medikamente zu verschreiben. Sie halten dagegen, dass in den vergangenen Jahren sehr teure Präparate dazugekommen seien. Dazu gehören zum Beispiel Arzneien, die die Behandlung von Brustkrebs und Alzheimer ermöglichen.
Damit die Mediziner in Zukunft wirtschaftlicher mit dem Rezeptblock umgehen, wurde im Januar 2002 die so genannte Aut-idem-Regelung eingeführt. Danach sollen statt teurer Originalpräparate billigere Generika mit den gleichen Wirkstoffen verschrieben werden.
Warum jammern die Ärzte immer?
Die Kassenärzte unterliegen einem komplizierten System von Budgets, die von den Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) verwaltet werden. Das Honorierungssystem ist so kompliziert, dass die Freiberufler unter dem Verwaltungsaufwand und den Unwägbarkeiten stöhnen. Für jede Leistung wird eine bestimmte Anzahl von Punkten vergeben, deren Geldwert zunächst nicht bestimmt ist. Er wird erst am Ende eines Quartals ermittelt, wenn die Gesamtleistung aller Ärzte, die zu einem Bezirk der KVen gehören, klar ist. Je mehr die Ärzte gearbeitet haben, desto weniger wert ist also ein einzelner Punkt. Außer dem Gesamtbudget, das es pro Kassenärztlicher Vereinigung gibt, existiert auch noch ein Praxisbudget, das sich nach der Zahl und Altersstruktur der Patienten richtet. Wenn dieses Budget ausgeschöpft ist, kann ein Arzt genauso gut seine Praxis schließen. Er kann dann nämlich nichts mehr verdienen. Das Jammern der Kassenärzte rührt also vor allem von ihrer Unzufriedenheit über ein kompliziertes Geflecht von Budgets, das dazu führt, dass sie sich nicht mehr leistungsgerecht bezahlt sehen. Ärztevertreter fordern nicht nur ein neues Honorierungssystem, sondern auch mehr Geld von den Kassen.
Was ist mit den kleinen Kassen?
Zwischen den großen Kassen wie der AOK, der DAK oder auch der Barmer und den kleinen, also den Betriebs- und Innungskrankenkassen, gibt es einen harten Konkurrenzkampf. Früher war jede Kasse berufsspezifisch orientiert. So gehörten die Arbeiter der AOK an, die Angestellten der DAK usw. Viele Betriebe besaßen ihre eigenen Betriebskrankenkasse, bei der die Angestellten automatisch versichert waren. 1996 wurden die Kassen für den allgemeinen Wettbewerb zugelassen. Auch Betriebskrankenkassen öffneten sich für Mitglieder von außen. Gegenüber den großen Kassen haben sie den Vorteil einer unkomplizierteren Verwaltung. Einige bieten ihren Service ausschließlich über das Internet an. Ein Grund, warum sie sich billigere Beitragssätze leisten können, mit denen sie besonders die jungen und gesunden Patienten locken. Die Zahl der Krankenkassen ist in den vergangenen Jahren stark zurückgegangen. 1970 gab es noch 1.850, 1995 nur noch 875 und zurzeit etwa 300.
Was ist denn nun zu tun?
Seit September 2001 sitzen Vertreter aus allen Bereichen der Gesundheitsbranche an einem Tisch und reden über mögliche Reformen. Im nächsten Frühjahr sollen erste Ergebnisse dieser Gespräche umgesetzt werden – genannt Gesundheitsreform 2003. Geplant ist etwa eine bessere Verzahnung von stationärer und ambulanter Behandlung. Außerdem sollen Hausärzte gestärkt werden und als „Lotse“ zu den Fachärzten fungieren. Eine Positivliste soll das Arzneimittelangebot transparenter machen. Die Positivliste ist eine Übersicht von Arzneimitteln, die von den gesetzlichen Krankenkassen als wirksam und verordnungsfähig eingestuft worden sind. Schließlich erhofft man sich von einem neuen Abrechnungssystem in den Krankenhäusern Einsparungen. Statt wie bisher nach Tagessätzen abzurechnen, soll in Zukunft die Art der Behandlung pauschal honoriert werden. Immer wieder im Gespräch ist die Aufsplittung des Leistungskatalogs der Krankenkassen in Pflicht- und Wahlleistungen. Ministerin Schmidt ist gegen diese Regelung, während sich Rürup, Leiter der Reformkommission für Rente und Gesundheit, dafür ausgesprochen hat.
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