Karl Schmidt-Rottluff: Vom Punk in die innere Emigration
Eine Doppelausstellung in Lübeck zeigt die Ostsee, wie der Expressionist Karl Schmidt-Rottluff sie sah. In der Schau spiegelt sich die Schreckensgeschichte des 20. Jahrhunderts - bis hin zur bleiernen Normalität der Nachkriegsjahre.
Wer an die Ostsee will, sollte nach Lübeck fahren, um genau zu sein in das klassizistische Museum Behnhaus und die Kunsthalle St. Annen. Näher lässt sich dem Meer zurzeit nicht kommen: Häuser hinterm Haff, ein Wald von Segelmasten, Naturgewalt, Naturschönheit - alles da, gemalt von Karl Schmidt-Rottluff, der zeit seines Malerlebens, von 1906 bis in die 1970er Jahre, regelmäßig die Ostsee bereiste.
Die Ausstellung mit 130 Werken des bedeutenden Expressionisten ist nicht nur die Retrospektive eines ungeheuren Werks, sondern zugleich ein Stück Kulturgeschichte der Ostsee. Im Behnhaus sind großartige Bilder vom Beginn der Brücke-Zeit bis zum Ende des zweiten Weltkriegs zu sehen, in der Kunsthalle St. Annen die nicht mehr ganz geheuren Bilder der Nachkriegszeit.
Erstmals an die Ostsee kommt Schmidt-Rottluff 1906, da besucht er den älteren Malerkollegen Emil Nolde auf der Insel Alsen. Beide verband zu dieser Zeit eine starke Orientierung an Van Gogh, von dem Schmidt-Rottluff einige Originale wenige Monate vor der Reise in einer Dresdener Galerie studieren konnte. Entsprechend bewegt und leuchtend sind die Bilder, die auf der Insel entstehen. Schmidt-Rottluff sprach von "Farbenstürmen" und meinte damit die Bilder Noldes. Das Wort trifft aber noch stärker auf seine eigenen zu. Die Farbstürme sind so stark, dass sie ihr Sujet fortreißen. Das Bild "Gärtnerei" zeigt noch gerade erkennbar einen Hof, die umgebende Landschaft hat sich ganz in verschiedene, kontrastierende Farbflächen aufgelöst. Und dass auf einem nächsten Bild Strand, Himmel und Uferböschung die pastos aufgetragenen Pinselstriche lenkten, verrät nur noch der Titel: "Am Meer".
"Ein wirres, offenbar zusammenhangsloses Gestrichel und Getüpfel in grellen Farbkontrasten", schrieb damals ein Kritiker über die Bilder. Das war aus Sicht der Akademien und Kunstschulen geurteilt und müsste den knapp 20-jährigen Schmidt-Rottluff eigentlich bestärkt haben. Der verfocht mit seinen Kollegen aus der Künstler-Gruppe "Die Brücke" ganz die Haltung des Punk: möglichst unmittelbar mit autodidaktisch angeeigneten Ausdrucksmitteln wiedergeben, was den Künstler zum Schaffen drängt.
Die Jahre nach seinem Alsener Sommeraufenthalt hat Schmidt-Rottluff an der niedersächsischen Nordseeküste zugebracht, erst 1913 fährt er wieder einen Sommer an die Ostsee, diesmal nach Nidden, dem heutigen litauischen Nida auf der Kurischen Nehrung, das damals eine Künstlerkolonie war. Er quartierte sich in einer Fischerhütte am Strand ein, in der zuvor schon sein Brücke-Kollege Max Pechstein Inspiration gefunden hatte. Die aufgeregt fiebernde Malweise aus der Alsener Zeit hat er da schon abgelegt. Vereinfachen, weglassen, zusammenfassen heißt nun sein Programm. Er malt Akte, die sich mit rotglühenden voluminösen Körpern wunderbar in die Dünenlandschaft fügen und fertigt Holzschnitte, auf denen die Häuser am Wasser die Ausläufer der Hügel sind. Es sind intensivste Beschwörungen eines paradiesischen Zusammenpassens von Kultur und Natur, die auch heute noch erheben - aber nicht weniger schmerzen durch das Wissen, welch Wahnsinn ein Jahr darauf die Utopien der Expressionisten auswischte.
Ende Juli 1914 verbringt Schmidt-Rottluff noch einige Sommertage in Hohwacht am östlichen Rand der Lübecker Bucht. Auf den Druckgrafiken, die er zurück im Berliner Atelier nach Skizzen aus Hohwacht fertigt, ist der Krieg bereits präsent. Der Bildraum der Grafiken ist zersplittert, Ecken und Kanten, wohin das Auge blickt. Noch der "Sonnenuntergang auf der Förde" kippt um in Schrecken: Alles, Häuser, Bäume, Himmel, Sonne, strebt aus- oder feindlich gegeneinander. "Ich habe nie die Kunst gemocht, die ein schöner Augenreiz war und sonst nichts, und doch merke ich elementar, dass man zu noch stärkeren Formen greifen muss, so stark, dass sie der Wucht eines solchen Völkerwahnsinns standhalten", schreibt Schmidt-Rottluff an einen Freund.
Dass es ihm gelungen ist, eine Antwort auf den Krieg zu finden, zeigen auch mehrere Bilder, die er im hinterpommerschen Jershöft malt. "Nach dem Bade" von 1925 etwa zeigt eine Frau mit Kind an der Hand. Das Kind schaut zweifelnd und ängstlich zur Mutter hinauf, die Mutter mitleidig und schuldbeladen hinab aufs Kind: Ach, hätte sie es doch nie in diese Welt gesetzt! Dazu die schlaffen, marionettenhaften Körper: nicht mehr sinnlich-rot, sondern schimmlig-grün. Abgehoben von Strand und Meer, herausgerissen aus ihrer Umwelt werden diese Figuren durch breite lilane Konturen. Der Mensch, isoliert, desillusioniert. "Nach dem Bade" ist "nach dem Krieg".
Von 1920 bis 1931 kehrt Schmidt-Rottluff jeden Sommer nach Jershöft zurück. Er malt die Brandung und Blitze über dem Dorf in amorphen Formen und irrealen Farben. Er malt die Handwerker und spiegelt in ihren mechanischen Bewegungen das um sich greifende Maschinenzeitalter. Er malt eine Zugbrücke, als wäre sie der Schlund eines Ungetüms, und malt Spaziergänger, die in unteilbarer Langeweile herumtappen und den Menschen meinen, der nicht mehr weiß, wohin. Kurz, er malt in leidenschaftlicher Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, mit dem Ort, der ihn umgibt, und der Zeit, in der er steht.
Umso mehr fällt auf, dass dies in dem kleinen Fischerdorf Rumbke am Lebasee nicht mehr im selben Maß der Fall ist. Von 1932 bis 1943 hält sich Schmidt-Rottluff sommers dort auf und sicher, die Zeit ist eine andere. Der Maler wird immer mehr angefeindet, 1937 werden viele seiner Werke in der Ausstellung "Entartete Kunst" gezeigt, 1941 folgt das Berufsverbot. Schmidt-Rottluff reagiert darauf mit der Versenkung in die Landschaft. Seine Bilder werden luftig und fließend. Sie kommen ohne Menschen aus, und damit auch ohne Zeit. Es sind Sinnbilder der inneren Emigration. Und damit Bilder eines Unterlegenen, der der Wucht dessen, was rings um ihn passiert, nichts mehr entgegenzusetzen hat.
Von seiner inneren Emigration hat sich Schmidt-Rottluff nie wieder erholt. Nach dem Zweiten Weltkrieg verbringt er bis 1973 regelmäßig die Sommer in Sierksdorf an der Lübecker Bucht. Wie die Bilder in der Kunsthalle St. Annen zeigen, hat er sich dabei mehr und mehr dem "schönen Augenreiz" angenähert, den er im ersten Weltkrieg so verdammt hatte. Er malt Bilder, als hätte es das Verbrechen der Vernichtung nicht gegeben. Er malt Steine, Muscheln, leichte Sommerwolken, heiter-mediterranes Licht. Das ist das Grauen jener Bilder: Er hätte seiner Zeit den Totenschein ausstellen müssen. Stattdessen trägt er ihr Schminke auf.
Die Doppelausstellung läuft bis 5. September
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