: Kannibalen im Legoland
Paolo Magelli inszeniert den „Häuptling Abendwind“ von Nestroy am Theater an der Ruhr. Hinter der schrillen Kannibalen-Posse verbarg sich schon 1862 der Neokolonialismus der heutigen Weltpolitik
VON PETER ORTMANN
Der größte Feind von so genannten Wilden ist die so genannte Zivilisation. Unzählige Naturvölker auf der Erde können ein Lied davon singen. Auch die australischen Kannibalen in Johann Nepomuk Nestroys (1801-1862) letztem Werk „Häuptling Abendwind oder Das gräuliche Mahl“ singen fröhlich. Denn sie wurden noch nicht entdeckt, sind frei, lebenslustig und immer hungrig. Nach altem Brauch fressen sie die Feinde auch, ansonsten lieben sie Fried` und Ruh`, die Papatutu. Es reimt sich, es klingt, das Stück war 1862 bei seiner Uraufführung in Wien eine Operette mit einem Akt und Musik von Jacques Offenbach.
Paolo Magelli brauchte am Theater der Ruhr für die wenigen Lieder nur ein kleines Orchester im schlichten Legoland-Bühnenbild. Das erhöhte die Konzentration auf die Wortspielereien Nestroys, die zum Teil mit Wiener Schmäh und Mundart erst einmal gewöhnungsbedürftig sind. Wie die haarsträubende Geschichte, die der österreichische Possen-Autor, Schauspieler und Sänger erzählt: Häuptling Abendwind, Witwer mit einer Tochter, besitzt einen weißen Bären, den er und das Volk zwecks Erleuchtung anbeten. Staatsbesuch von der Papatutu-Nachbarinsel hat sich angekündigt. Traditionell kommt da Fleisch auf den Tisch. Sehr gerne gefangene Feinde, gern auch fremde Besucher, ab und zu auch mal unangenehme Einheimische. Doch nichts ist vorhanden, Abendwind hat Angst vor der Blamage.
Rettung ist in Sicht, als der blasierte Friseur Arthur mitten im Sturm strandet. Der Häuptling setzt ihn umgehend auf die Speisekarte für seinen Gegenspieler Biberhahn, trotz Arthurs blitzartiger Liebschaft mit seiner Tochter. Er kann auch nicht wissen, dass Arthur Biberhahns Sohn ist, den der, als Chef einer bereits entdeckte Kultur, in die Zivilisation geschickt hat, um den Fortschritt zu beschleunigen.
Und so verspeisen sie in gemütlicher Runde am Abend die blutigen Leckerbissen, bis die Identität des Frischfleisches ans Abendlicht kommt und nun die Waffen sprechen sollen. Doch mit einem alten christlich-missionarischen Trick hat sich der Friseur gerettet. Mit etwas Bestechung wurde statt seiner das Bären-Kulttier gefressen. Daraufhin kriegt er kriegt die Tochter und Abendwind die Last der Zivilisation auf den Hals.
Happy End? Nein. Ein merkwürdiges Gefühl driftet durch den gereizten Magen. Das freie, lebenslustige Leben der Papatutu ist zu Ende. Mag auch die temporäre Menschenfresserei nach unseren Wertvorstellungen kulturlos sein, gibt es Rechtfertigungen für eine zivilisatorische Diktatur nach unseren Vorstellungen? Ist die prätentiöse Lebensweise des Pariser Coiffeurs etwa erstrebenswerter? Nestroys böses Spiel zielte damals auf die österreichisch-ungarische Donaumonarchie. Heute zielt sie punktgenau auf die Kapitalmonarchie, die Menschen fressend wie die Wilden, aber mit selbst gebauter Kulturideologie, die ganze Welt neu kolonisieren will. Insofern bleibt Johann Nepomuk Nestroy, so bizarr und mundartlich er daher kommt, aktueller als viele dümmlichen Inszenierungen seiner Stücke in der Vergangenheit das vermuten ließen – auch Karl Kraus sei Dank für seine ersten Ausgrabungsarbeiten im vergangenen Jahrtausend.
Häuptling AbendwindTheater an der Ruhr, Mülheim22. April, 19:30 UhrKarten: 0208-599010