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KOMMENTARKandidatenvertreibung

■ SPD: Unzeitgemäße Frage nach dem Spitzenkandidaten

Der Berliner SPD nachzusagen, sie böte das Bild einer geschlossenen, politisch handlungsfähigen Partei, kommt fast einer Verleumdung gleich. Die traditionell ausgeprägte Neigung der Genossen, sich mit sich selbst und den Innereien der Partei zu beschäftigen, konnte und kann manchmal fast vergessen machen, daß die Sozialdemokraten in dieser Stadt Regierungsverantwortung tragen. Ein zuweilen selbstherrlicher Walter Momper als Landesvorsitzender entsprach deshalb nur den ungebärdeten Bezirksgliederungen und deren bisweilen rüpelhaftem Verhalten. Führung, das lehrte in den achtziger Jahren der immense Personalverschleiß bei den Partei- und Fraktionsvorsitzenden, ist etwas, was man am liebsten vermeidet. Das hat die Suche nach starken Persönlichkeiten als Landesvorsitzende nicht gerade beflügelt. Das galt auch für Walter Momper. Erst der rot-grüne Glücksfall sorgte dafür, daß Momper das Etikett der blassen Figur loswurde.

Politische Entwürfe für die Stadt und die Suche nach Antworten für drängende Probleme geraten da leicht außer Sicht. Lieber macht man Personalpolitik. Das setzt sich jetzt fort. Die Frage hochzuspielen, wer Spitzenkandidat im nächsten Wahlkampf wird, ist ein Anschlag auf den Kandidaten Thierse. Schließlich ist die Wahl erst Ende 1995 — sofern die große Koalition nicht vorher zerbricht. In jedem Fall — für vorzeitige Neuwahlen gilt dies erst recht — aber braucht es überzeugende Konzepte für die Zukunftsentwicklung der Stadt und eine glaubwürdige Persönlichkeit an der Spitze. Neue Mehrheiten in der Stadt — das hat die für die SPD unbefriedigende Kommunalwahl verdeutlicht — gibt es nur über eine veränderte Partei. Der Kandidat muß der Partei eine intellektuelle Tranfusion verpassen, die Ost-West-Spaltung überwinden und die SPD für neue Wählerschichten attraktiv machen. Thierse hat dieses Format. Die Spitzenkandidatur jetzt zu entscheiden wird demgegenüber nachrangig und kann nur dazu dienen, vorhandene Strukturen festzuklopfen. Setzt sich die Parteirechte damit durch, läßt dies für die Zukunft Übles ahnen. Die unzeitgemäße Debatte macht verständlich, warum sich Thierse für seine Kandidatur Bedenkzeit ausbedungen hat. Gerd Nowakowski

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